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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Ein Geschenk



Rolf
18.07.2003, 12:08
Ich habe sehr lange über die Mail eines Menschen, der auch hier im Forum vertreten ist, nachgedacht. Seine Worte waren die richtigen. Ich glaube Du weißt wen und welche Worte ich meine.
Ich hoffe, meine Geschichte hilft euch auf den Weg. Und bitte glaubt mir eines. Wenn es auch manchmal noch so düster und hoffnungslos erscheint, es geht immer weiter.
Geht nicht immer so hart mich euch zu Gericht. Fangt an euch zu verzeihen.

@Caritas und Marcus: Hoffe ihr habt genug Webspace:))) Ich war so frei mir den Platz einfach zu nehmen. Eins noch, es wäre schön, mal auf Mails zu Antworten. Und einige Links bei Euch funktionieren nicht.

Schönes Wochenende, Rolf




FLACHMANN AM SPIELAUTOMATEN
Von Mir


Woher sollte ich wissen,

dass Alkohol süchtig macht. Oder spielen. Überhaupt, guten Morgen Herr Doktor, ich bin „Mensch ärgere dich nicht“ süchtig. Spielen ist doch völlig normal und schön. Und ein Gläschen hier und da, prima. Wenn es dabei geblieben wäre, würde hier nur noch ein Wort stehen. ENDE.

Es blieb nicht dabei. Ich war fünfzehn, als sich der Brandy das Erstemal bei mir vorstellte. Auf dem Geburtstag einer Cousine. Möchtest du auch ein Gläschen? Na klar, warum nicht. Das Zeug schmeckte gar nicht mal schlecht. Damit hatte sich der Fall, für die Erwachsenen, auch schon erledigt. Nicht für mich.

Da eine der Flaschen ziemlich unbeaufsichtigt rumstand, bediente ich mich selbstverständlich weiter. Wie viel ich mir von dem Zeug reingekippt habe weiß ich nicht mehr. Nur, irgendwann reagierte mein Körper äußerst merkwürdig. Ich kotzte den Teppich voll. Mitten im Wohnzimmer. Gott, ging es mir schlecht. Der nächste Tag war noch schlimmer. Aber, trotz meines körperlichen Ausnahmezustandes, fühlte ich mich ganz schön erwachsen. Und, ich wurde von allen Seiten umsorgt. Aspirin, kalte Waschlappen, Katerfrühstück. Herzlich Willkommen.

Da ich eine treue Seele bin, blieb ich dann im Laufe der Jahre dem Brandy treu. Abgesehen von gelegentlichen Ausflügen zu Hopfen und Malz. Es wurde zu einer lieben Gewohnheit, sich mal die Kante zu geben. Ich machte mir überhaupt keine Gedanken. Alkohol gehörte dazu. Bei diesen gesellschaftlichen Ereignissen fanden sich auch gute Freunde, Party ohne Ende. Im Nachhinein muss ich allerdings feststellen, Brandy war von allen der treueste. Über sehr viele Jahre.

Der Grundstein war gelegt. Mit siebzehn konnte ich schon ordentlich was vertragen. Bei der Bundeswehr sollte es noch besser werden. Nichts gegen die Bundeswehr, aber wir haben da wirklich gesoffen wie die Löcher. Jedenfalls, stand einer Karriere als Kampftrinker nun nichts mehr im Wege. War ich zu dem Zeitpunkt schon abhängig?

Keine Ahnung. Wenn mal ein paar Wochen keine Party war, juckte mich das auch nicht weiter. Es machte halt einfach nur Spaß, sich mit Kumpels zu besaufen. Alleine trinken kam damals noch nicht in Frage. Warum also aufhören? Es lief wie am Schnürchen. Schließlich kostete es mich jede Menge Energie, mir einen Ruf aufzubauen. Im Laufe der Zeit wurde ich ein wirklich gern gesehener Saufkumpan. Immer bereit und absolut Standfest.

Als ich dann erwachsen wurde, schließlich ist man das mit achtzehn, erlebte ich das Erstemal die Welt der Spielautomaten. „Mensch ärgere dich nicht“ kannte ich ja schon länger. Ein Freund nahm mich mit in eine Spielhalle. Das Erstemal in einer Dattelhalle. Ich war erwachsen. Staunend sah ich mich um und war völlig fasziniert. Hier ging es um Geld.

Gut, ich durfte als Kind dann und wann mitspielen, wenn auf der Wochenendparty meines Vaters siebzehn und vier um Geld gespielt wurde. Aber dies war etwas anderes. Alles blinkte, ratterte und machte fröhliche Musik. Von irgendwo hörte ich einen Schrei. Mein Gott, hier wird einer erdolcht. Dem war natürlich nicht so. Der Glückliche war bloß außer sich vor Freude. Eine hunderter Serie. Welch ein Ereignis.

Ich hatte eine völlig neue Welt betreten. Nur, sie war mir auch sehr fremd. Es hatte etwas Verruchtes. Da saß nun eine verschworene Gemeinschaft. So sah ich es, jedenfalls damals. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ein Spieler in Wirklichkeit der einsamste Mensch der Welt ist. Woher sollte ich es auch wissen. Ich war ja noch Lehrling.

Mit dem Selbstbewusstsein eines Analphabeten in einer Akademikerrunde, schritt ich dann zur Kasse. Zwei Fünfer bitte. Möchten Sie auch einen Kaffee, der ist kostenlos. Sicher, gerne. Es sollte der teuerste Kaffee meines Lebens werden.

Mit leicht zitternden Händen suchte ich mir dann einen freien Automaten. Doch so einfach war das nicht. Es war nicht damit getan, Geld rein und los. Nein, da waren zig Tasten.
Stoptaste, Weitertaste – Risikotaste. Also las ich mir die Beschreibung durch. Alle Welt wusste spätestens jetzt, ein Neuling. Und ich hatte mir solche Mühe gegeben, professionell auszusehen. Mit einem Mal fühlte ich mich beobachtet. Hat da nicht gerade einer mitleidig gegrinst? Was soll’s, jeder fängt mal an.

Mein direkter Nachbar war allerdings ein sehr geduldiger und höflicher Zeitgenosse. Er machte sich die Mühe, mir alles zu erklären. Erfahrung macht den Meister. Im Laufe der Zeit wurde ich selbstsicherer und man kannte mich. Als ich an diesem Tag die Dattelhalle verließ, schaute ich vorher zufällig oben auf den Automaten. Ich hatte da meine Zigaretten abgelegt. Oben drauf klebte ein großes Schild. Licht lockt Leute an. Was willst du denn, ich bin doch da.

Erwachsen. Ich verdiente schon nettes Geld, hatte Freunde, besoff mich von Zeit zu Zeit und ging ab und zu Zocken. Es war eine schöne Zeit. Ich machte mir keine allzu großen Sorgen um meine Zukunft. Unterbrochen wurde mein gelegentlicher Ausflug in die Dattelhalle dann von der Bundeswehr. Der Sold reichte wirklich nicht, um hier und da ein paar Fünfer zu verballern. Für gesellschaftliche Zusammenkünfte zum Zwecke eines Besäufnisses reichte er. Und was sind schon achtzehn Monate. In meiner Dattelhalle ging es auch ohne mich weiter.

Nachdem meine Zeit bei der Bundeswehr vorbei war, hatte ich das Glück, gleich wieder Arbeit zu bekommen. Hallo Dattelhalle. Ob Sie es glauben oder nicht, man kannte mich noch. Die gleichen Gesichter, vielleicht ein bisschen blasser. Jedenfalls fühlte ich mich wieder pudelwohl. Ab und zu zechen, ein paar Fünfer in den Automaten. Was für ein Leben.

Mittlerweile zockte ich schon richtig professionell. Ich beherrschte die Risikotasten aus dem Effeff. Kurz, kurz, lang, lang, lang und noch einen obendrauf. Der Kasten jaulte sein Liedchen und ich hatte ihn von dreißig Pfennig auf fünfzig Sonderspiele hochgedonnert. Allgemeines Gemurmel und anerkennende Blicke waren mir sicher. Jeder Zocker hatte da sein eigenes System für die Risikotasten.

Na klar, es stellten sich natürlich immer mehr Verluste ein. Meistens war ich spätestens am zehnten pleite. Weiter schlimm war das aber nicht. Erstens war ich nicht spielsüchtig, ich konnte aufhören wann ich will, - wenn ich pleite war - und zweitens gehörten die Wochenenden sowieso meinem Freund. Brandy. Dafür fanden sich immer ein paar Mark. Es gab also eine echte Alternative. So ging das eine ganze Weile. Am zehnten pleite, an den Wochenenden freundschaftliches Beisammensein mit Brandy. Alles in allem, mir ging es gut.

Nicht ganz. So zwanzig Tage ohne Dattelhalle waren nicht leicht. Die Kassiererin in meiner Dattelhalle war zwar immer freundlich und schenkte den Umsonstkaffee nach, Kredit gab es allerdings nicht. Ehrlich, einem Zocker hätte ich auch keinen gegeben. Ich bin doch nicht irre. Da ich keiner war, dachte ich, wozu gibt es Banken. Schließlich hatte ich ein festes Einkommen. Guten Tag, ich möchte einen Kredit aufnehmen. Selbstverständlich, wie viel darf es denn sein? Kein Problem und herzlich Willkommen.

So einfach war es an Geld zu kommen. Da stand ich nun, endgültig erwachsen. ich hatte meinen ersten Kredit in Höhe von zweitausend Mark in der Tasche und war sehr zuversichtlich, was meinen weiteren Werdegang betraf. Das musste gefeiert werden.

Ich hätte gerne zwanzig Fünfer. Und ich sagte das mit dem Selbstbewusstsein eines Profis. Das ich nun ausgerechnet an diesem Tag eine Pechsträhne haben sollte konnte ich wirklich nicht ahnen.

Ich ließ mir natürlich, ganz Profi, nichts anmerken, als ich mit achthundert Mark weniger die Halle verließ. Nachdem ich mir dann zu Hause ein freundliches Gläschen genehmigt hatte, es wurde dann doch die ganze Flasche, ging mir ein Licht auf. Wozu schmollen? Verlieren gehört nun mal dazu. Schließlich sind noch tausendzweihundert über. Beim nächsten mal sind die Kisten wieder reif. So denkt nur ein echter Profi.

Welch ein Fortschritt. Ich war in der Lage achthundert Mark in fünf, sechs Stunden zu verlieren und ertrug es wie ein Mann. Ich besoff mich und freute mich darauf, die Automaten an einem der nächsten Tage zu plündern.

Nachdem ich dann drei Tage später, wiederum um fünfhundert Mark ärmer, die Dattelhalle hocherhobenen Hauptes verlies, dachte ich das Erstemal über einen Abschied nach. In vier Tagen tausenddreihundert Mark verloren. Das war hart. Ich holte mir eine Flasche und ging bei einem guten Tropfen sehr hart mit mir zu Gericht. So konnte es nicht weitergehen.

Ging es auch nicht. Ich versuchte mir ein Limit zu setzen. Hundert Mark pro Woche. Kein Problem. Ich war dreiundzwanzig, hatte Arbeit, war Kreditwürdig. Warum aufhören? Ich machte weiter. Der Kredit hatte sich dann nach zwei Wochen in Fünfer aufgelöst. Weiter schlimm war das nicht. Ich zahlte ihn mit hundert Mark monatlich ab und hatte mein Einkommen. Da ich Zuhause wohnte blieb also genug über. Ich stellte fest, es geht.

Klar, es wurde auch mal mehr, so zwei, dreihundert Mark die Woche. Dafür habe ich dann zwei Wochen ausgesetzt. Wenn auch widerwillig. Eine Pause war allerdings nicht schlecht. Es wurde nämlich sehr anstrengend. Arbeiten, Dattelhalle, verlieren, besaufen, dass geht an die Substanz.

An meinem Verhalten konnte ich nichts außergewöhnliches bemerken. Gut, die Montage an denen ich meinen Chef anrief, oder anrufen lassen habe, häuften sich. Chef, heute geht es wirklich nicht, ich muss mir irgendwie den Magen verdorben haben. Klar Junge. Und dabei stimmte was ich sagte. Ich hatte wirklich einen schlimmen Kater. Von Zeit zu Zeit ein paar Tage Erholungsurlaub, in Form eines gelben Scheins, alles nicht tragisch. Fand ich, mein Chef nicht. Jedenfalls machte er es irgendwann nicht mehr mit. Der Job war flöten.

Ich war völlig geknickt, gewöhnte mich aber recht schnell an den Zustand der Arbeitslosigkeit. Ich hatte nun mehr Zeit. Die Dattelhalle machte morgens um neun auf. Mit mir zusammen. Nachts ein bisschen zechen war auch nicht mehr so schlimm. Ich konnte bis halb neun schlafen. Ein Problem gab es allerdings.

Das Arbeitslosengeld war nicht allzu üppig. Irgendwie schaffte ich es aber, über einen gewissen Zeitraum, meine beiden Hobbys trotzdem nicht zu vernachlässigen. Wozu hat man Verwandte und Freunde. Ich lieh mir einfach Geld, wenn meins alle war. Irgendwie kam ich immer zurecht, alles hielt sich noch einigermaßen in Grenzen. Völlig unbeschwert. Wirklich, ich konnte an mir keine Veränderungen feststellen.

Eines Morgens, es muss so gegen zwölf gewesen sein, merkte ich wie mir irgendwer am Arm rumfummelt. Ich hatte eine fürchterliche Nacht hinter mir und bekam kaum die Augen auf. Es war mein Vater. Was machst du denn da?

Sohn, ich mache mir Sorgen. Er suchte meinen Arm nach Einstichen ab. Der Gute dachte allen Ernstes ich hänge an der Nadel. Er meinte, ich hätte mich verändert. Immer so blass und zerfahren. Ne Papa, habe nur ein bisschen mit Freunden gefeiert. Damit gab er sich allerdings nicht zufrieden. Mein Vater war ein wirklich lieber Mensch und Alkoholiker. Dem konnte ich so schnell nichts vormachen. Er hat doch nun wirklich verdammt schnell bemerkt, dass mit seinem Sohn was nicht stimmt.

Wir setzten uns dann zusammen, tranken ein Gläschen, und mein Vater fing an mich ins Gebet zu nehmen.

Junge, so geht das nicht weiter. Ne Papa.

Willst du dein Leben zerstören? Ne Papa.

Du trinkst zuviel. Ja Papa.

Hast du sonst noch Probleme, du kannst über alles mit mir reden. Ne, wirklich nicht Papa.

Junge, wie wäre es mit einer Therapie. Klar, Papa, mache ich.

Er war wirklich sehr erfahren. Die eine oder andere Entgiftung und Kur hatte er schon hinter sich. Nachdem er nachgeschenkt hatte, klärte er mich auf. Was gab es für Möglichkeiten diesem Teufelskreis zu entrinnen.

Prost Papa, Prost mein Junge.

Mein Vater meinte es wirklich gut. Sein Leben hatte sich schon längst in alle Bestandteile aufgelöst. Er soff irgendwann nur noch (meine Mutter ließ sich scheiden, eine kluge Frau) und er pinkelte in einen Eimer, weil er den Weg zur Toilette nicht mehr schaffte. Sein Sohn sollte es da mal besser haben.

Hatte ich auch, ich schaffte es immer zur Toilette, jedenfalls zum pinkeln. So beschlossen wir also, ich solle eine Therapie machen. Ich war zwar nicht suchtkrank, dessen war ich mir sicher, aber warum nicht. Als erstes kam die Entgiftung. Ich war noch keine vierundzwanzig und betrat schon wieder eine neue Welt. Von da an verlor ich auch den Kontakt zu meinem Vater.

Jedenfalls sollte diese Entgiftung sechs Wochen dauern. Kein Problem. Der Aufenthalt in dieser Klinik war wirklich nicht schlecht. Die ersten Tage war ich natürlich völlig verschüchtert. Alles Profis. Profipsychologen, Profipfleger und Profisäufer. Und ich war noch nicht mal suchtkrank, das konnte ja heiter werden.

Wurde es auch. So was hatte ich noch nicht erlebt. Ich wurde von allen Seiten bemuttert. Man kümmerte sich um mich.

Die Therapeuten redeten mit mir. Einer der Pfleger spielte mit mir Schach und von den alten Hasen der Trunksucht hörte ich die tollsten Geschichten. Wie viel hast du denn so gesoffen? Zwei, drei Pullen am Tach. Jau, heftig, und dann das Delirium. Eine sehr nette Frau bekam beim Essen einen Krampfanfall.

Alle kannten sich aus. Ich nicht. - Sicher, bei meinem Vater hatte ich so einiges erlebt. Für einen zehnjährigen ist es nicht so toll, nachts um zwei einen offenen Kiosk zu suchen, weil der Alte jammert. Hilfe ich brauche was. Ich glaube ein Delirium hatte er mal. Krampfanfall nicht. Immerhin.

Hier waren allerdings echte Profis. Es jammerte auch keiner. - Und eines können Sie mir glauben, im Laufe der Jahre lernte ich bei meinen Klinikaufenthalten die besten Menschen meines Lebens kennen. - Also hörte ich aufmerksam zu, beobachtete, und dachte, soweit lasse ich es mit Sicherheit nicht kommen.

All zuviel konnte ich zu diesen Gesprächen sowieso nicht beisteuern. Die paar Flaschen die ich getrunken habe. Ich hätte mich ja lächerlich gemacht. Meine Zockerei ging nun wirklich keinen was an. Auch nicht die Therapeuten. Aber jeder meinte es gut mit mir. Mensch Junge, du bist noch so jung, hast das ganze Leben noch vor dir. Mach es besser als wir. Klar Egon, mach ich.

Da war ich, vierundzwanzig, voller Zuversicht was meine Zukunft betrifft, und machte eine Entgiftung. All das hätte mich ja auf einen anderen Weg bringen können. Nur, ich war ja nicht Suchtkrank.

So genoss ich den Aufenthalt, ließ mich bemuttern, und spielte ziemlich oft Schach mit dem netten Pfleger. Einer der Mitpatienten war auch ein passabler Schachspieler. Leider schmiss er durch das heftige Zittern seiner Hände oft die Figuren um. Fand ich nicht so toll, ich nehme dieses Spiel sehr ernst. An Skatspielen war natürlich erst recht kein denken.

Ein Therapeut meinte dann, ich solle eine Langzeittherapie machen. Das würde mir bei meinen Problemen helfen. Was für Probleme? Ich ließ ihn aber weiterreden. Drei Monate würde die dauern. Klar Herr Soundso, mach ich.

Ich nahm sehr ernst was er sagte. Und da mein Elternhaus ja nun auch nicht mehr das war, was es nie gewesen ist, beschloss ich dem Rat dieses Mannes zu folgen.

Es folgten drei wirklich schöne Monate. Da ging es mir richtig gut. Ich blühte regelrecht auf. Ich lernte eine Menge über Suchtkrankheiten und über mich. Auch wenn ich das Ganze mehr als eine Art Ferienlager betrachtete. Es tat mir gut.


Nach dieser Zeit zog ich dann erst mal zu meiner Schwester. Ich hatte ein bisschen gespart und machte den Führerschein. Es ging mir gut. Einige Zeit später suchte ich mir eine kleine Wohnung. Endlich, ich war mein eigener Herr. Arbeit fand ich auch wieder und hin und wieder trank ich ein Gläschen Brandy. Konnte ich ja, ich war ja nicht süchtig.

Ungefähr ein halbes Jahr dauerte es dann, bis ich das erste mal wieder eine Spielhalle betrat. Gefährlich konnte mir meine Zockerei ja nun nicht mehr werden. Schließlich hatte ich viel gelernt und wusste, dass man Suchtkrank werden kann.

Da war ich wieder. Irgendwie fühlte ich mich als wäre ich nach Hause zurückgekehrt. Alles war sehr vertraut. Ich fühlte mich wohl. Komischerweise ging ich aber nicht in meine alte Dattelhalle. Irgendwie schämte ich mich, vielleicht weil ich mehr wusste als die anderen. Das Zocken süchtig machen kann? Egal, ich war nicht süchtig und eine Spielhalle sieht aus wie die andere. Ich war absolut selbstsicher. Das alte Profiauftreten stimmte und ich wusste, wenn ich will, kann ich aufhören. Ich hätte gerne vier Fünfer und einen schwarzen Kaffee.

An diesem Tag gewann ich und wie ich vorhergesagt hatte, konnte ich aufhören. Ich ging, sehr gut gelaunt und um achtzig Mark reicher, nach Hause. Dort angekommen genehmigte ich mir einen kleinen Brandy und freute mich des Lebens. Alles war bestens. Ich verdiente ganz gut, die Wohnung war sehr preiswert und der Kredit von damals war auch schon abbezahlt. Es ging wirklich bergauf mit mir.

Zocken ging ich einmal die Woche und wenn ich verlor, hielt sich das in Grenzen. Auch meine Trinkerei hielt sich in Grenzen. Einer meiner Kumpels fragte mich dann irgendwann mal, ob ich Lust hätte, mit in die Spielbank zu kommen. Klar, warum nicht.

Es ging dann ziemlich schnell bergab. Am Dattelautomaten dauerte es wenigstens eine gewisse Zeit bis man Pleite war. Aber Casino. Das war schon etwas anderes. Es dauerte nicht lange, bis ich mit dieser Welt einigermaßen vertraut war. Nach einer Weile nahm ich dann einen etwas höheren Kredit, fünftausend Mark, auf und fühlte mich wie ein König.

Es war wirklich ein tolles Gefühl ganz lässig hundert Mark auf Rot zu setzen und zu verlieren. Ich hatte ja gelernt mir nichts anmerken zu lassen. Meine Zockermiene begleitete mich sehr lange. Ich fing wirklich an zu versteinern.

Nach drei Wochen waren noch zweitausend über. Ich dachte mir dann, jetzt ist es scheiß egal, trank einen Brandy, rief ein Taxi und ließ mich zum Casino fahren. So richtig mit Stil. An der Bar erst mal ein Gläschen und dann an den Tisch. Nach gut zwei Stunden war ich restlos Pleite. Ich hatte noch nicht mal mehr Geld für eine Straßenbahn-Fahrkarte. Mir ging es absolut mies. Ich fühlte mich wie der letzte Versager. Es herrschte völlige Leere in meinem Kopf. Nur noch dieses übermächtige Gefühl der Hilflosigkeit.

So schlimm hatte ich es bis dahin noch nicht wahrgenommen. Alle guten Vorsätze waren dahin. Nein, süchtig war ich nicht. Ich hatte einfach nur versagt. Versager, dieses Wort wurde Dauergast in meinen Gedanken. Ich ging dann mit gesenktem Kopf, ziemlich langsam, zu Fuß nach Hause. So richtig mit Stil.

An diesem Abend hatte ich noch nicht mal Lust mich zu besaufen. Meine Gedanken liefen Amok. Fünftausend Mark weg. Ich versuchte mich zu trösten. Mein Gott, so was kann jedem passieren. Es half nichts, meine ganze Selbstsicherheit hatte sich in Luft aufgelöst. Binnen kürzester Zeit von Himmel hoch jauchzend zu Tode betrübt.

Dabei wusste ich doch Bescheid, ich war doch nicht Suchtkrank. Warum also, habe ich nicht rechtzeitig aufgehört. Ich war einfach nur ein Versager. Ich musste nur an meiner Willenskraft arbeiten. Wenn ich lernen würde rechtzeitig aufzuhören, würde ich auch wieder gewinnen. Ich holte meine Flasche dann doch noch aus dem Schrank.

Merkwürdig war, dass es mir am nächsten Morgen immer noch scheiße ging. Erstens hatte ich einen Kater, die Flasche hatte ich natürlich leer gemacht, und zweitens war in meinem Kopf immer noch dieses nagende Gefühl ein Versager zu sein. Schlimm, es war doch klar das ich nur mehr Willensstärke brauchte. Warum verschwand dann der Versager nicht aus meinen Gedanken? Ich fühlte mich auch noch schuldig.

Ich hatte mir so viel vorgenommen und durch meine Schuld ist alles kaputt gegangen. Suchtkrank war ich ja immer noch nicht. Alles war meine Schuld. An diesem Morgen kam Arbeiten gehen für mich nicht in Frage. Ich fühlte mich richtig schlecht. Ein Gefühl, welches mir immer vertrauter wurde.

Versager, Schuldig, schlecht fühlen. Ich hatte drei neue Freunde.

Ich beschloss dann, mich für das Casino sperren zu lassen. Das geht. Ich war sehr vernünftig. Ein Brief war schnell geschrieben. Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit möchte ich mich sperren lassen. Am nächsten Tag legte ich eine Ausweiskopie bei und schickte den Brief los.

Zwei Wochen später probierte ich natürlich aus, ob ich noch reinkam in das Casino. Nein, tut mir leid, ich darf sie nicht reinlassen. Das beruhigte mich endgültig. Nun konnte nichts mehr passieren. Ich hatte das Gefühl mich sehr erwachsen verhalten zu haben. Richtig vernünftig. Ich ging danach noch auf ein Stündchen in die Dattelhalle.

Nach ein paar Tagen ging es wieder etwas aufwärts mit mir. Ich hatte schließlich noch einen Job und es war doch bloß Geld. Alles wird gut. Dachte ich jedenfalls. Aber etwas hatte sich geändert. Wenn ich in einer Dattelhalle saß, fühlte ich mich nicht mehr so richtig wohl. Ich zockte natürlich trotzdem, aber es war anders. Ich ahnte wohl, irgendwas stimmt nicht mit mir. Es war nicht wie früher. Wenn ich nun eine Spielhalle betrat, schaute ich mich kurz um, ob mich auch ja kein Bekannter sieht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen weil ich spielte. Vier neue Freunde.

Es dauerte nicht allzu lange und ich verlor meinen Job. Das alte Lied. Wie soll man auch konzentriert arbeiten, wenn man einen Abend vorher den halben Monatslohn verzockt hat. Ganz zu schweigen von dem Kater. Irgendwie musste ich schließlich meine vier neuen Freunde im Zaum halten.

Brandy stand mir in der Zeit sehr oft mit Rat und Tat zur Seite. Er half mir mit den ganzen negativen Gefühlen klar zu kommen. Ich lernte ihn sehr zu schätzen. Er war immer da wenn ich ihn brauchte. Ein echter Freund.

Die Wohnung verlor ich dann auch noch, mit Mietschulden. Große Sorgen machte ich mir deswegen allerdings nicht. Mit sechsundzwanzig hat man schließlich noch das ganze Leben vor sich. Ich hatte ungefähr siebentausend Mark Schulden, keine Arbeit und keine Wohnung. Alles nicht weiter schlimm.

Es folgten dann zwei Jahre in denen ich einfach durch die Gegend gezogen bin. Ich wohnte mal hier, mal da. Mutter, Verwandte oder bei Kumpels. Ich zockte, soff und dieses Leben wurde immer normaler. Es wurde normal ein schlechtes Gewissen zu haben. Es wurde normal ein Versager zu sein. Es wurde normal mich schuldig zu fühlen. Mit Brandy war es erträglich. Es war nicht mehr weit bis in die Gosse.

Da wäre ich höchstwahrscheinlich auch gelandet. Aber ich hatte Glück. Einfach nur Glück. Mit neunundzwanzig lernte ich eine Frau kennen die mich geliebt hat. Ich hatte einen Sack voller Schulden, immer noch keine Arbeit, aber das interessierte sie nicht. Sie liebte mich. Nach einer nicht all zu langen Zeit zog ich zu ihr und es wurde richtig schön. Heile Welt.

Sie kümmerte sich erst mal um meine ganzen Angelegenheiten. Gläubiger anschreiben, Papiere ordnen und so weiter. Ich fand eine Arbeit, zahlte Schulden ab und wir verstanden uns. Ich gab mir wirklich Mühe. Es war wirklich alles schön. Auto, Urlaub, schöne Wohnung. Es ging mir gut. Von Zeit zu Zeit einen Brandy und ein bisschen Zocken. Völlig okay. Ich war ja nicht Suchtkrank.

Na klar hatte ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal einen Ausrutscher hatte und fünfhundert Mark an einem Abend verzockt hatte. Schuldig fühlte ich mich dann auch, schließlich gab meine Freundin sich die allergrößte Mühe vorwärts zu kommen. Für mich allerdings war es normal. Ich hatte nach wie vor Brandy und er half.

Irgendwann fiel ihr natürlich auf, dass es nicht normal ist was ich so treibe. Ich verzockte immer mehr und soff dem entsprechend. Ich brauche nicht mehr zu erwähnen, dass ich wieder arbeitslos wurde. Wir setzten uns zusammen und redeten.

Ich redete. Ich erzähle Storys ohne Ende. Warum, weshalb, blablabla. Ich wurde Meister im Ausreden erfinden. Suchtkrank war ich nicht. Ich erklärte mich dann bereit eine Umschulung zu machen. Wie wär’s mit einer Umschulung, einen richtigen Beruf lernen. Klar, mache ich.

Ich war nun knapp einunddreißig und erlernte einen Beruf. Prima Sache. Es machte Spaß. Ich wurde gefordert, lernte nette Leute kennen und kam rum. Während dieser Zeit hielt sich meine Zockerei und Sauferei auch sehr in Grenzen. Danach fand ich tatsächlich eine Stelle und alles hätte wunderbar laufen können. Ein Jahr hatte ich diese Stelle und nachdem ich sie verloren hatte, folgten richtig üble Jahre. Ich war vierunddreißig Jahre alt.

Meine Schulden wurden immer mehr, ich war zwar Arbeitslos, aber ich hatte fünftausend Dispo bei meiner Bank. Ein paar Wochen später war der jedoch ausgereizt. Ich zockte fast jeden Tag. Wie ich immer wieder Geld dafür aufgetrieben habe, ist mir heute manchmal ein Rätsel. Meine damalige Partnerin verdiente ganz gut und ich verballerte das Geld vom Arbeitsamt. Natürlich reichte das nicht. So wurde ich Weltmeister im Märchenerzählen und Lügen.

Es wurde fies, richtig fies. Ich dachte in dieser Zeit natürlich schon das Eine- oder Andere mal darüber nach, mit der Zockerei auf zu hören. Vielleicht sogar mit der Trinkerei. Ich wusste, nein, ich ahnte, wenn es so weitergeht gehe ich den Bach runter. Irgendwie verstand ich es jedoch immer wieder, mich und andere davon zu überzeugen es nicht zu tun. Ich war immer absolut überzeugt, jederzeit aufhören zu können.

Völlig klar, wenn ich dermaßen Pleite war und ich keine Möglichkeit hatte mir Geld mit Lügengeschichten zu erschwindeln, war eine gewisse Zeit Pause. Vier Wochen keine Zockerei und nur ein bisschen Alkohol. In diesen Zwangspausen verstand ich es meisterhaft, alle Welt davon zu überzeugen, seht ihr, ich habe keine Probleme.

Ich glaubte es selber.

Meinem Untergang stand nicht mehr viel im Wege. Mein Leben wurde von nun an nur noch von zwei Sachen bestimmt. Zocken und saufen. Ich weiß, das habe ich immer schon gemacht. Aber es wurde brutal. Früher hatte ich auch schlimme Phasen und mir ging es fürchterlich. Der Unterschied bestand wohl darin, mir wurde nach und nach bewusst was mit meinem Leben nicht stimmt. Meine perfekt konstruierte Traumwelt fing an zu bröckeln. Aber ich war noch lange nicht so weit. Ich begriff nichts. Mehr und mehr versteinerte auch noch das letzte bisschen Gefühl in meiner Seele. Mir wurde alles egal.

Hauptsache Zocken. Das wurde endgültig mein Leben. Wenn ich Spielen konnte war ich glücklich. Dann spielte der Alkohol auch eine nicht ganz so große Rolle. Alle negativen Gefühle legte ich mit dem Betreten der Dattelhalle ab.

Die waren erst hinterher wieder da. Zwar schlimmer als vorher, aber was spielte das in dem Moment für eine Rolle. Keine. Die Spielhalle war mein Zuhause. Da kannte ich mich aus. Hier fühlte ich mich nicht als Versager. Vor dem Automaten sitzen und spielen. Das war ein Gefühl der Macht, der Kontrolle. Ich glaubte ihn zu beherrschen.

Gleichzeitig hatte es aber auch etwas unterwürfiges, demütigendes. Ich schenkte ihm doch alles was ich hatte. Meine Zeit, mein Geld, meine Gefühle, meine ganze Liebe. Er gab mir von all dem nichts zurück. Hin und wieder ein kleines Stückchen Zucker in Form einer Serie. Nur um mich danach noch mehr aus zu saugen.

Hab mich doch ein kleines bisschen lieb, ja. Und wenn nicht, egal. Ich komme trotzdem zu dir zurück. Vielleicht hast du mich irgendwann ein bisschen lieb. Meine Domina.

In diesen zwei Jahren machte ich fürchterliche Erfahrungen. Ich wollte wirklich nur noch Zocken. Und dafür brauchte ich Geld. Wenn am Ersten das Arbeitslosengeld auf meinem Konto war, ging es los. Rein in die Dattelhalle. Ich bekam etwas über tausend Mark vom Arbeitsamt.

Davon musste ich noch Schulden bezahlen und meine Lebensgefährtin wollte ja auch Geld sehen. Eigentlich völlig normal. Nicht für mich. Wie gesagt, mir wurde alles andere egal. Meine Partnerin sah keinen Pfennig mehr und wozu Schulden bezahlen. Ich machte immer mehr.

Als würde ich von einem gewaltigen Strudel in den Abgrund gezogen. Der Stöpsel war schon ein paar Jahre draußen, aber der Sog wurde nun immer gewaltiger. Ich kämpfte nicht dagegen an. Ich war noch lange nicht so weit.

Meistens reichten die tausend Mark vom Arbeitsamt etwas über eine Woche. Auch mal länger, wenn ich Gewinne machte. Das war allerdings wirklich nicht oft der Fall. Gewinne waren dann sowieso nur Pleiteverzögerer. Ich glaube, mir ging es auch irgendwann gar nicht mehr ums Gewinnen. Ich wollte nichts mehr mit der Realität zu tun haben. Als gäbe es mich einfach nicht mehr. Den Film meines Lebens löschen.

Mein ganzes Denken drehte sich nur noch um Spielen, und um Geld beschaffen für das Spielen. Selbst an einem Totensonntag, alle Dattelhallen haben dann zu gehabt, fand ich nach stundenlanger Suche weit abseits eine Offene. Wäre doch gelacht.

Und trinken wollte ich natürlich auch. Brandy half Verluste zu ertragen.

Wie beschafft man sich Geld. Äußerst hilfreich ist es einer geregelten Arbeit nach zu gehen. Dann gibt es Kredit bei der Bank. Ich hatte keine Arbeit, also musste ich mir andere Wege einfallen lassen. Kriminell wollte ich nicht werden, das hatte ich schon hinter mir. In sehr jungen Jahren hatte ich einige Dummheiten gemacht. Nichts wirklich schlimmes. Ladendiebstahl und ein paar Einbrüche. Ich kam mit einer Bewährungsstrafe davon und war kuriert. Es gab keinerlei Konflikte mehr mit dem Gesetz. Kaum der Rede wert.

Gut, mein Geld vom Arbeitsamt reichte im Schnitt zehn, zwölf Tage. An diesen Tagen ging es mir Klasse. Gegen Mittag in die Dattelhalle und ran an meine Lieblinge.

Richtig, meine Lieblinge. Ich liebte sie über alles. Ich redete auch mit ihnen. Na los, mein Schatz, jetzt gib dir mal Mühe. Lass mich nicht hängen. Gestreichelt habe ich den Automaten auch, man kann ja nicht wissen. Klar, die Serie war dann der Orgasmus. Meine Domina gab mir Zucker.

An mehreren Automaten gleichzeitig zu Zocken war geil. Und wenn in den seltensten Fällen mal zwei, drei gleichzeitig schmissen, war das besser als Sex. Der totale Rausch. Nur noch die Automaten und ich. Meine Welt hatte eine Größe von drei Quadratmetern. Ich wollte nichts anderes mehr. Hier hatte ich alles was ich brauchte. - Freunde, Partnerin, essen, schlafen, leben, alles unwichtig. - Ich lebte in meiner eigenen Welt. Einer Welt in der mir nichts passieren konnte. Eine Scheinwelt. Einer Welt, in der ich sehr viele Jahre meines Lebens gefangen war.

Merkwürdig war allerdings, wenn ich in einer Tour verlor, gab ich nicht etwa dem Automaten die Schuld. Ich hatte Schuld. Es konnte nur an mir liegen. Wie alles andere um mich herum, auch meine Schuld war. Ehrlich, eigentlich fühlte ich mich nur noch schuldig. Sprit wird teurer, meine Schuld. Der Bundeskanzler verliert die Wiederwahl, meine Schuld. Ich war wirklich nicht Suchtkrank und brauchte dringend ärztliche Hilfe, ich war halt ein Versager. Kann man nichts machen.

Ich erinnere mich gerade an ein merkwürdiges Erlebnis. Mittlerweile hatte ich ja schon wieder meine Stamm-Dattelhalle. Einige Kilometer von Zuhause weg. Weit abseits. Die Chancen hier nicht gesehen zu werden standen nicht schlecht.

Da saß ich nun und zockte von elf Uhr Mittags bis achtzehn Uhr abends. Selbstverständlich verließ ich die Halle dann Pleite. Nicht ganz. Zehn Mark hatte ich noch. Ich setzte mich, sehr deprimiert auf mein Fahrrad und fuhr so langsam es geht, heimwärts. Wenn ich Pleite war, zögerte ich den Heimweg immer unendlich lange raus. Ich nahm an diesem Abend auch einen anderen Weg. Schließlich ist es nicht schlecht, wenn man im Leben auch mal was Neues sieht.

So kam ich an einer Spielhalle vorbei die nicht kannte. Noch nie gesehen. Mir schossen zig Gedanken durch den Kopf. Gut, Zehn Mark hast du noch. Was tun? Hole ich mir eine Pulle Brandy oder gehe ich rein. Vielleicht ist es ja Fügung, dass ich hier vorbeigekommen bin. –Als Zocker ist man ja sowieso recht abergläubisch. Der Automat zeigt dreimal hintereinander die Achtzig Pfennig, oh Mann, schlechtes Zeichen. Ich habe auch nie die Fünfer aufeinander gestapelt. Wirklich, alles mögliche habe ich mit irgendwelchen Omen, oder Schicksalshinweisen verbunden. – Jedenfalls beschloss ich nach einer Minute des qualvollen Denkens rein zu gehen.

Wirklich, es war unglaublich was dann passierte. Ich steckte den ersten Fünfer in die Kiste und direkt nach dem Ersten Spiel kommt eine Hunderter Serie. Der blanke Wahnsinn. Der Automat hörte nicht auf zu schmeißen. Die Gurke kotzte sich regelrecht aus. Alles in allem wurden es an die Vierhundert Mark.

Es war klar das ich mich freute. Bis ich wechseln ging. Die Dame an der Kasse warf mir einen dermaßen vernichtenden Blick zu, dass mir auf der Zunge lag, gute Frau ich will sie nicht ausrauben.

Doch, ich hatte sie ausgeraubt. Da kommt ein wildfremder in ihre kleine Dattelhalle und macht einen Automaten leer. Dabei hatten sich doch ihre Stammkunden alle Mühe gegeben ihn zu füllen.

So richtig freuen konnte ich mich dann nicht mehr. Na ja, vierhundert Mark sind nicht schlecht. Aber ich hatte wirklich ein total schlechtes Gewissen. Da hatte ich nun, ein völlig fremder Zocker, den Automaten dieser Frau geplündert.

Woher sollte sie auch wissen, dass ich in all den Jahren vorher ein echtes Vermögen an genau solche Automaten verloren hatte. Es waren ja nicht ihre. Ich fühlte mich tatsächlich schuldig und beschloss nur noch in meiner Dattelhalle zu gewinnen.

Trotz einiger kleiner Ausrutscher, das waren Tage an denen ich mal etwas gewann, brauchte ich natürlich weiterhin einiges an Geld. Eine Zeit lang konnte ich finanzielle Engpässe mit dem Verscherbeln meiner Sachen ausgleichen. Modellauto-Sammlung, CD-Sammlung, na ja, was sich so angesammelt hat im Laufe der Zeit. All zu viel war es nicht, klar warum.

So versuchte ich mich einigermaßen über Wasser zu halten. Hauptsache ich konnte Zocken und saufen. Wenn ich Zockte fühlte ich mich wohl, fern jeder Realität. Wenn ich nicht Zocken konnte, ging es mir dermaßen schlecht, dass ich wirklich saufen musste um nicht durch zu drehen. Zu der Zeit dachte ich manchmal, eigentlich wäre es besser tot zu sein.

Ich lebte weiter und fing an, allen Menschen , wo Geld zu holen war, die besten Lügen meines Lebens zu erzählen. Ich wurde eine wandelnde Lüge. Am Besten war ich in der Opferrolle. - Stell dir mal vor Tante, dieses verdammte Arbeitsamt. Stellen einfach meine Zahlungen ein. Habe ich zwar heute Morgen schon geklärt, war ein Irrtum, aber ich muss ja einiges bezahlen. Und die Überweisung von denen dauert eine Weile. Leben muss ich auch. Kannst du mir für ein paar Tage dreihundert Mark leihen. Klar mein Junge.

Oder, ich habe einfach die Wahrheit gesagt. Jeder wusste ja das ich spiele. Und jeder glaubte was ich erzählte. Ich war dann den Tränen nah wenn ich loslegte, du ich bin abgestürzt. Ich weiß wirklich nicht wie das passieren konnte. Es ging so lange gut, ich will doch wirklich von los kommen. Aber ich weiß einfach nicht mehr weiter. Wie soll ich jetzt die Rechnungen bezahlen.

Ich vergaß auch nicht zu erwähnen, dass ich nun ernsthaft etwas unternehmen würde. Gleich heute lasse ich mir einen Termin beim Arzt geben. Ich glaubte an das was ich sagte und ich bekam was ich wollte. Sie fragen sich, alle wussten es und gaben ihm Geld? Ich war gut, ich war richtig gut. Sie hätten es auch geglaubt.

Wenn alles nichts half und ich einige Zeit von Verwandten oder Freunden nichts bekam, musste ich natürlich meiner Partnerin glaubhaft versichern, dass ich nicht spielen war. Sie wollte schon wissen, warum ich ein paar Tage nach dem ersten kein Geld mehr hatte.

Mit meiner permanenten Geld leiherei konnte ich ihr sonst immer zeigen, siehst du, ich habe noch Geld. Du weißt, ich spiele nicht mehr. Habe ich doch versprochen. Was am nächsten Tag war, egal. Sie war erst mal beruhigt. Also, wandte ich in ganz heiklen Situationen den Brieftaschentrick an. Völlig zerknirscht saß ich dann abends Zuhause und wartete auf sie.

Was hast du denn? Du ziehst ja ein Gesicht wie sieben Tage Regen.

Schatz, mir ist was fürchterliches passiert. Ich war vorhin noch ein bisschen bummeln in der Stadt. Dann wollte ich mir hier am Kiosk noch Zigaretten holen. Da merkte ich das meine Brieftasche weg ist.

Ich bin völlig fertig - mein Gesichtsausdruck hätte den härtesten Mafioso erweicht – das ganze Geld war drin. Ich weiß, es war dumm, mit soviel Geld rum zu laufen. – Fragen und Antworten nahm ich immer schon vorweg – aber so was ist mir doch noch nie passiert. Siebenhundert Mark, ich glaube ich hänge mich auf.

Selbstverständlich wollte ich mich nicht erhängen, aber so ein kleiner Hinweis konnte ja nicht schaden. Sie hatte trotzdem ihre Zweifel und sah mich ungläubig an.

Ich weiß, dass du mir nicht glauben willst, ich habe halt zu oft gelogen, ist schon okay. In Zeitlupentempo, den Kopf gesenkt, schleppte ich mich dann aus dem Wohnzimmer. Ein wirklich jämmerlicher Anblick.

Die leere Brieftasche hatte ich dann Vormittags schon in einen leeren Umschlag gesteckt, und per Post an mich selbst geschickt. Selbstverständlich leerte ich, solange der Brief nicht da war, nicht den Briefkasten. Ich wartete.

Bis dann Abends meine Freundin samt Brieftasche in die Wohnung kam. Wenn meine Freundin mir vorher noch nicht geglaubt hatte, hier war der Beweis. Vom Postboten. Sie hatte dann ein total schlechtes Gewissen mir gegenüber. Ich tröstete sie. Ich war richtig gut. Ein richtiges Arschloch.

Ich merkte sehr schnell, die Opferrolle war gut, und mit einer Mischung aus reumütiger Sünder und Opfer noch besser. Aus mir wurde ein wahrer Meister. In den Augenblicken, in denen ich es anwenden musste um Geld zu beschaffen, oder meine Umwelt zu beruhigen, war ich perfekt.

So perfekt, dass ich alles was ich von mir gab selber glaubte. Ich war dann Opfer und armer Sünder. Gäbe es einen Oscar für den besten Lügner, ich hätte ihn wahrlich verdient gehabt.

So beschaffte ich mir Geld und mein erster Weg war die Dattelhalle. So richtig erträglich war mein Leben allerdings schon lange nicht mehr. Mein Freund Brandy rückte von nun an immer mehr in den Vordergrund. Ich fing dann an, mir ein oder zwei Flachmänner mit in die Dattelhalle zu nehmen. Gewinne konnten so besser gefeiert und Verluste besser verkraftet werden. Ich trank auf dem Klo hin und wieder einen Schluck. Kaugummi war immer dabei.

Ich saß vor meinem Automaten und es hätte jemand zu mir sagen können, du deine Mutter liegt im Sterben. Moment ich komme gleich, habe gerade eine Serie.

Ein Tag Dattelhalle war dermaßen vollgeladen, mit den verschiedensten Gefühlen, dass es auch schier unmöglich war, ihn ohne Brandy zu verkraften. Morgens um neun rein. Ein paar hundert Mark in der Brieftasche. Gegen elf noch dreißig Mark. - Ich spielte an mehreren Automaten. - kurz vor der Verzweifelung. Gegen halbzwölf eine Serie. Die absolute Euphorie. Es geht aufwärts. Gegen zwei wieder fast am Ende. Und so weiter. Abends um elf nach Hause. Völlig pleite.

Nach einem richtig schlimmen Datteltag, ich verlor an diesem Tag eintausendfünfhundert Mark, hatte ich ein wirklich besonderes Erlebnis. Ich wollte unbedingt noch saufen. Mir drohte der Schädel zu platzen. Ich fühlte mich völlig ausgebrannt und schwindelig. Aber ich war ja total pleite. Auf meinem Weg nach Hause, den ich mit gesenktem Kopf, langsam ging, - eigentlich lief ich nur noch mit gesenktem Kopf durch die Gegend. Unsichtbar, weg vom Fenster – fiel mir eine Rettung ein.

Noch kurz etwas zum gesenkten Kopf. Es war auch nicht nur dieses, sich verstecken wollen. Einem Zocker, der Pleite ist, schwirren die unmöglichsten Gedanken durch den Kopf. Hoffnung irgendwann den großen Wurf zu landen, Hoffnung vom Zocken los zu kommen, Hoffnung für das nächste Mal Geld auftreiben zu können und natürlich – vielleicht finde ich heute Abend eine volle Brieftasche. Bei mir war es jedenfalls so. Gut, weiter.

Es gab um die Ecke bei uns einen Kiosk. Da bin ich dann vorbei und fragte, ob ich wohl eine Flasche Brandy bis morgen anschreiben lassen kann.(ich war mir sicher, am nächsten Tag ein paar Mark auftreiben zu können) Nein, so was machen wir nicht.

Ich bot dem Besitzer meine Uhr zum Pfand an. Der Besitzer nahm die Uhr, und sah sie sich eine Viertelstunde in aller Ruhe an. Kein Witz, eine Viertelstunde. Ich fühlte mich wie ein Französischer Adeliger auf dem Weg zur Guillotine. Schlimmer, ich wusste nämlich eins ganz genau. Notfalls hätte ich gebettelt, ich hätte mich total erniedrigt. Der hätte sagen können, lass deine Hose hier, er hätte sie bekommen. Ohne Sprit wäre ich irre geworden.

Ich bekam meine Flasche dann doch für die Uhr. Ein Erlebnis der besonderen Art. Beim nächsten Mal ging es schneller. Von da an duzten wir uns.

Meine Beziehung war zu diesem Zeitpunkt schon längst kaputt. Sie machte ihren Kram, ich zockte und soff. Die Schulden wuchsen und mich gab es schon fast nicht mehr. Warum mich meine Lebensgefährtin zu dem Zeitpunkt nicht schon rausgeschmissen hat? Das hatte Sie mit Sicherheit vor. Es war wohl auch Mitleid, welches sie daran hinderte.

Hauptsächlich war es wohl meine Fähigkeit anderen ein schlechtes Gewissen einzureden. Ich verstand es perfekt, genau den richtigen Moment zu erkennen, wo es hätte gefährlich werden können. Mit letzter Kraft riss ich mich dann einige Tage zusammen, putzte wie ein Weltmeister die Wohnung, kochte das leckerste Essen und war der liebste Mensch der Welt. Wie sehr hatte sie sich doch in mir getäuscht. Siehst du mein Schatz, nun wird alles gut.

Brenzlig wurde es, als ich eines Mittags nach Hause kam und ein Schlosser dabei war ein neues Schloss in die Tür einzubauen. Nun wurde es richtig gefährlich. Klar war ich an diesem Vormittag Zocken. Irgendwie hatte ich allerdings einen lichten Moment.

Einer der Automaten schmiss richtig gut und ich sackte den Gewinn ein. Danach ging ich Einkaufen und freute mich des Lebens. So kam ich nun die Treppe hoch, mit drei Einkaufstüten, und der gute Mann werkelte. Das war’s dann wohl. Nicht für mich.

Gegen Abend, nach meinem vollen Programm, hatten wir zwar ein neues Schloss, aber ich saß nicht auf der Strasse. Ich hatte es wieder mal meisterhaft verstanden ihr ein schlechtes Gewissen einzureden. Mit drei Einkaufstüten als Trumpf. Ein Spieler braucht auch mal Glück.

Danach riss ich mich wirklich ein paar Wochen zusammen. Ich zockte nicht und trank vormittags. Bis Abends war meine Fahne dann nicht mehr ganz so schlimm. Eines Abends, wir sahen Fernsehen, klingelte es. Guten Abend, sind sie Herr Soundso. Bin ich. Ich wollte ihnen bloß sagen, dass ihr Vater verstorben ist. Gut, danke.

Der gute Mann gab mir die Adresse und ging. Als ich mir die Adresse dann noch mal ansah, wurde ich stutzig. Das war ja man gerade zehn Minuten weg von uns. Ein paar Strassen weiter. Wir gingen am nächsten Tag hin und ich wollte mich um einiges kümmern. Er hatte also gar nicht weit weg von mir gelebt. In einem Männerwohnheim.

Ich betrat sein Zimmer und fand mich in einem Loch wieder. Alles was ich mitnahm waren einige Papiere und ein Foto. Den Pinkeleimer ließ ich stehen.

Ich ließ ihn dann anonym Bestatten. Für mehr hätte ich auch kein Geld gehabt. Freunde hatte er keine und den Rest meiner Familie interessierte es auch nicht. Es waren recht kurze Gespräche über ihn. Mein Vater ist tot. Gott, der Arme. Da sieht man mal wieder was der Alkohol anrichtet. Das war’s.

Ich saß danach Abends zu Hause und dachte bei einem Glas Brandy über einiges nach. Mein Gott, wie oft bin ich auf dem Weg zur Dattelhalle da vorbeigekommen. Wenn ich doch gewusst hätte. Aber das hätte wohl auch nichts geändert. Alles was geblieben war, ein Foto, einige Papiere und meine Erinnerung an seinen Pinkeleimer.

In meinem Leben änderte sich dadurch nichts. Außer, das Thema Rausschmiss war für einige Zeit vom Tisch. Wer setzt schon jemanden auf die Strasse dessen Vater gerade verstorben ist. Siehste Papa, da hast du deinem Sohn doch noch helfen können.

Ich riss mich einige Zeit zusammen und glaubte tatsächlich selber schon daran von der Zockerei und Sauferei los zu kommen. Lange glaubte ich es nicht. Natürlich, es war schon ein Schock, zu sehen was der Alkohol aus einem Menschen macht. Wie elendiglich er zu Grunde geht. Schließlich will keiner so enden. Und immerhin war dieser Mann, mein Vater. Aber ich machte mir keine allzu großen Sorgen. Ich war ja nicht Suchtkrank.

So verging einige Zeit, in der ich mich zusammenriss. Ein paar Monate. Ich schraubte meine beiden Hobbys auf ein Mindestmaß herunter, zwangsläufig, denn es wurde immer schwerer an Geld zu kommen und kümmerte mich um den Haushalt. Wir fingen wieder an, gemeinsam etwas zu unternehmen und ich fühlte mich sicher. Ich war auch ernsthaft bereit einen Arzt aufzusuchen.

Das tat ich auch. Finde ich ganz toll, dass sie so zu ihrer Krankheit stehen. Nicht wahr, Herr Doktor. Das Beste wird sein, sie machen erst ein mal eine Entgiftung. Mach ich, Herr Doktor.

Also packte ich ein paar Sachen und begab mich ins Krankenhaus. Ich wusste wo es war, schließlich kannte ich es von früher. Diesmal war es allerdings anders. Ich fühlte mich überhaupt nicht wohl. Das lag vielleicht auch daran, dass ich vollkommen nüchtern da aufgetaucht bin. Irgendwie fühlte ich mich beobachtet.

Wieso ist der nüchtern? Womöglich ist das gar kein Alkoholiker? Ich fing an mich ein bisschen zu schämen. Da gab es wirklich so viele arme Menschen und denen nehme ich ein Bett weg. Und da war auch noch eine Kleinigkeit die mir im Kopf rumspukte. Was passiert Zuhause, wenn ich sechs Wochen weg bin? Habe ich dann noch ein Zuhause? Nach drei Tagen verließ ich das Krankenhaus. Ich hielt es für besser. Andere brauchten das Bett wirklich mehr als ich.

Aller Welt hatte ich doch wohl meine ernsten Absichten bewiesen. Mir auch. Eine Woche nach diesem Erlebnis holte ich mir Morgens um neun eine Flasche Brandy vom Penny.

Geld hatte ich zwar immer noch keins, deswegen zockte ich auch in der Zeit nicht, wir hatten jedoch eine drei Liter Pulle Weinbrand in der wir Pfennige und Groschen sammelten. Ich kramte mir für zehn Mark Groschen zusammen und bezahlte damit meine Flasche. Morgens um neun eine Flasche Sprit mit einhundert Groschen bezahlen ist doch nun wirklich kein Indiz für Alkoholismus. Nach dem ersten Glas ging es mir dann besser.

Die Groschen in der Riesenpulle reichten einige Tage. Und mir hin und wieder, hier und da, zehn oder zwanzig Mark zu borgen war nicht weiter das Problem. Das Problem war, Zocken ging absolut nicht mehr. Dafür ließ sich beim besten Willen kein Geld mehr auftreiben. Ich meine jetzt nicht die Paar Tage nach dem Ersten, wo es Geld vom Arbeitsamt gab. Ich meine den Rest des Monats. Ein Monat kann verdammt lang werden, wenn man am achten Pleite ist.

Also fing ich an, jeden Tag im Schnitt eine Flasche Brandy zu leeren. Sicher, das Eine- oder Andere mal dachte ich schon darüber nach, wie viel bringt wohl der Fernseher. Aber saufen war auch nicht schlecht.

Dafür hatte ich immer Geld. Für zehn Mark war ich noch Gut. Mittlerweile konnte ich auch bei meinem Kiosk anschreiben. Die Uhr hatte ich sowieso nicht mehr, hätte also nicht viel genutzt. Mein Zustand wurde immer schlimmer. Bis Mittags pennen, kaum die Augen auf, das erste Glas, und zusehen, wo gibt es Nachschub.

Ich dachte allen Ernstes mir geht es schlecht und tiefer kann ich nicht mehr sinken. Mit drei, vier Tagen Abstinenz , bewies ich mir allerdings immer wieder, das ich kein Alkoholiker war. Und da ich zwanzig Tage im Monat nicht spielte, war ich auch nicht Spielsüchtig. Ich war wohl der Einzige, der es noch glaubte.

So hätte das noch lange weitergehen können, wenn ich nicht zufällig mal ein Gespräch mit meiner Schwester gehabt hätte. Bedingt durch ihre Alkoholkrankheit kannte meine Schwester einen Arzt, der sich auf so was spezialisiert hatte. Bei dem ließ ich mir dann mal einen Termin geben. Mir ging es ja wirklich schlecht.

Mein Selbstwertgefühl war völlig im Keller, ich hatte nur noch Schuldgefühle und mein schlechtes Gewissen gab nur nach einigen Gläsern Brandy Ruhe. Ob ich zu dem Zeitpunkt ernsthaft mein Leben ändern wollte. Aber sicher, ich war fest davon überzeugt.

Ich werde wohl nie den Tag vergessen, an dem ich das Erstemal die Praxis dieses Arztes betrat. Die Leute standen im Treppenhaus weil in der Praxis kein Platz mehr war. Brechend voll. Junkies und Alkoholiker. Ich mittendrin. Alkoholiker und Spieler.

Ich meldete mich bei der Arzthelferin, sagte meinen Namen und das ich einen Termin hätte. Termin, ja sicher, für wen hielt ich mich. So verzog ich mich dann auf einen freien Platz zwischen den Junkies und machte mich klein. Klein machen war einer meiner bevorzugten Zustände, jedenfalls wenn ich nüchtern war.

Nach und nach wurde es leerer und ich immer unruhiger. Nach fast fünf Stunden schaute die Arzthelferin um die Ecke und fragte mich was ich hier wolle. Ich habe einen Termin. Oh, das tut mir leid, wir haben sie glatt vergessen. Mensch, war ich gut im klein machen. Jedenfalls wurde ich dann zum Doktor vorgelassen. Innerlich auf dreißig Zentimeter geschrumpft ging ich in sein Zimmer.

Ich dachte ich bin im falschen Film. Das Zimmer erinnerte mich arg an Willi Schwabes Rumpelkammer und mir stand ein Mann mit Jeans und Cowboystiefeln gegenüber. Das Eine Hosenbein drin, das Andere draußen. In einer Ecke stand John Wayne aus Pappe. Was kann ich für sie tun? Na ja, Herr Doktor, ich glaube ich trinke ein bisschen zu viel und ab und zu verspiele ich etwas Geld.

Da saß nun dieser Mann hinter seinem Schreibtisch und malte etwas auf ein Stück Papier. Dabei erzählte er mir was von Seele und Fass und dass das überläuft. Verstehen sie das? Aber sicher Herr Doktor.

Eigentlich war ich in Gedanken schon längst wieder draußen und goss mir einen ein. Irgendwie hatte ich allerdings auch das Gefühl, der weiß das. Er redete nun eine ganze Weile mit mir und ich ließ ihn. Ernsthaft aufhören wollte ich natürlich nicht, aber wenn man so tut als ob, beruhigt man eine Zeitlang seine Umwelt. Das Gespräch endete mit einem Rezept für eine Ergotherapeutin. Da solle ich mal hingehen und mich bei ihm auch wieder melden. Selbstverständlich Herr Doktor und danke für ihre Hilfe.

Irgendwie war es mit diesem Arzt aber anders. Nach diesem Gespräch ging es mir seelisch ein bisschen besser. Allerdings beschlich mich auch das merkwürdige Gefühl, der hat dich durchschaut. Dem kannst du nichts vormachen. Ich versuchte trotzdem ihm sehr lange etwas vor zu machen, so wie ich eine sehr lange Zeit mir noch etwas vormachen wollte. So richtig klappen wollte das nicht, so gut war ich nicht. Ich hatte meinen Meister gefunden. Merken sollte ich das erst einige Jahre später.

Auf dem Weg nach Hause holte ich mir eine Flasche und freute mich bei einem Gläschen, dass ich nun endlich etwas unternahm um mein Leben in den Griff zu bekommen. Ich besuchte auch tatsächlich diese Ergotherapeutin und malte schöne Bilder. Mein Selbstbewusstsein wuchs wieder und ich soff weiter. Wenn Geld da war, zockte ich. Haben meine Therapeutin und mein Arzt das nicht erkannt? Mit Sicherheit! Sie gaben dem Kind Zeit.

Es kam etwas später natürlich, wie es kommen musste. Körperlich und Seelisch am Ende, machte ich eine Entgiftung. Mein Arzt hatte in einer Klinik Belegbetten und dorthin ging ich. Dem zuvor gingen noch die übelsten Auseinandersetzungen mit meiner Partnerin. Das Leben mit mir war die reinste Hölle für Sie. Es war für uns beide die Hölle. Jeder erlebte sie auf seine Art.

Nach drei Tagen in dieser Klinik brachte sie mir dann noch eine Plastiktüte mit drei Unterhosen und Socken. Sie nahm mich noch einmal in den Arm und wünschte mir alles Gute. Sie tat endlich das Richtige.

Abends im Bett wurde mir dann langsam bewusst was los war. Kein Zuhause mehr, Schulden ohne Ende und keine Arbeit. Ich überlegte was nun besser wäre, sich vor einen Zug schmeißen oder aufhängen. Für Beides fehlte mir die Kraft, und Gott sei Dank, stand ich auch unter sehr starken Beruhigungsmitteln. Alles in mir war Kind. Ich hatte nur noch Angst. Eine unglaubliche Hilflosigkeit machte sich breit. Was hatte ich getan? Warum? Irgendwann schlief ich ein.

Ob ich zu diesem Zeitpunkt begriff, dass ich Suchtkrank war? Das ist sehr schwer zu erklären. Ich war am Ende. Vor allem psychisch. In dem Moment hätte ich meinen Kopf verwettet, das ich nie wieder Zocke oder trinke. Wenn ein Suchtkranker Mensch an einem Tiefpunkt angelangt ist, fällt es ihm relativ leicht einzugestehen, ja, ich bin Krank. Das Problem der Sucht ist, auch dann zu wissen, ich bin Suchtkrank, wenn es mir gut geht. Wenn alles läuft.

Ein Glas Alkohol kann der Untergang sein. Ein Fünfer in den Spielautomaten kann der Untergang sein. Suchtkrank zu sein bedeutet für mich, Arbeit. Vorsichtig sein, nicht ängstlich. Sich weiterentwickeln. Geduld. Und vor allem, niemals aufgeben. Egal was passiert. Es gibt für fast alles eine Lösung. Egal wie lange es dauert. Niemals aufgeben. Ein Rückfall ist nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang.

Ich sollte noch einige Jahre brauchen um all das zu verstehen und zu begreifen. Ich musste noch schlimme Dinge erleben auf meinem Weg. Aber alles fing an sich zu verändern. Der Aufenthalt in dieser Klinik, bei meinem Arzt, sollte die Weichen stellen. Dort lernte ich auch Menschen eines Vereins kennen. Diese Menschen waren Alkoholiker und alles was sie wollten und immer noch tun, ist , anderen Suchtkranken zu helfen. Ich hatte eine Therapeutin, einen Arzt und diese Menschen. Meine Lehrzeit konnte beginnen.

Die ersten zwei Wochen in dieser Klinik waren sehr schlimm für mich. Gott sei Dank machte ich keinen körperlichen Entzug vom Alkohol durch. Ich hatte in der Hinsicht wohl eine recht starke Konstitution. Bei mir war die Psyche völlig im Eimer. Ich machte total dicht, ließ nichts und niemanden an mich ran. Ich versuchte, nicht das kleinste bisschen Gefühl zu zeigen. Man hätte mich glatt für Tut-Ench-Amuns Totenmaske halten können. Ich ging auch nicht zur Toilette, nein, ich geisterte. Ich war unsichtbar, weg vom Fenster.

Meistens hielt ich mich im Bett auf und redete nur das Notwendigste. Nur zum Rauchen, da musste ich in den Raucherraum gehen. Dort saßen die anderen Alkoholiker und klönten. Der Eine oder Andere Witz wurde erzählt und man lachte.

Ich, der Unsichtbare lachte natürlich nicht mit. Ganz im Gegenteil, ich geisterte zurück in mein Zimmer und war außer mir. Das darf doch wohl nicht wahr sein, ich bin am Boden zerstört und die lachen. Nein, dafür hatte ich nun wirklich kein Verständnis. Ich war echt schockiert. Das ist hier ein Krankenhaus und keine Comedy Show. Hier hat es einem schlecht zu gehen.

Ich war mir ziemlich sicher, die waren alle noch nicht soweit. Die begriffen alle nicht das sie Suchtkrank waren. Ich, der Unsichtbare wusste mehr als alle Anderen. Mit Sicherheit würden die alle des Öfteren in dieser Klinik landen. Ich kam auch noch mal hierher.

So nach zwei Wochen vollzog sich eine Wandlung mit mir. Ich fing an aufzutauen. Tut-Ench-Amun zeigte erste Regungen. Ich war nicht mehr ganz Unsichtbar. Ganz langsam nahm ich Gestalt an. Alle halfen mir. Wirklich alle. Die Schwestern, mein Arzt, meine Therapeutin und die Mitpatienten. Sie alle vollbrachten eine wahre Meisterleistung. Ich fing wieder an zu leben.

Ich tastete mich, zwar noch vorsichtig, an ein Lachen heran. Es stellte sich das Erste Mal seit sehr langer Zeit ein Gefühl der Geborgenheit bei mir ein. Es war unbeschreiblich, ich hatte das Gefühl in Watte zu fallen. Nein, in ein Meer aus Liebe. Das hilflose Kind fühlte sich von allen in den Arm genommen. Ich glaube, diese Tage waren der Anfang vom Ende, eines sehr langen Weges.

Der Stöpsel wurde ganz langsam wieder geschlossen, so das der Sog immer mehr an Kraft verlor. Der Sog, der mich fast endgültig in die Tiefe gerissen hätte.

Ich blieb sechs Wochen in dieser Klinik. Aber danach musste es ja irgendwie weitergehen. Keine Wohnung, keine Arbeit, keine Zukunft. Die Realität hatte mich wieder. Und die war grausam. Man hatte sich zwar schon um einen Therapieplatz für mich gekümmert, Sechs Monate Langzeittherapie, aber das konnte noch ein paar Wochen dauern. Das kam darauf an, wann ein Platz frei wird. Ein Freund schlug mir dann vor, die Zeit in einem Männerwohnheim zu überbrücken. Das wollte ich nicht, ich hatte meine Gründe.

Und es gab ja noch meine Schwester. Sie war trocken und erklärte sich bereit mich aufzunehmen. Da war ich wieder. Der Begriff Teufelskreis verlor etwas von seiner Abstraktheit für mich.

Es dauerte noch sechs Wochen bis ich einen Therapieplatz bekam. In dieser Zeit ging ich einmal die Woche zu meiner Therapeutin und wir arbeiteten. Wir fingen an meine Probleme aufzuarbeiten. Sie ging dabei äußerst behutsam vor und mit sehr viel Einfühlungsvermögen. Sie wusste wie zerbrechlich ich war. Ich hatte großes Glück mit ihr.

In diesen sechs Wochen war ich auch absolut trocken und spielte nicht. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mal sechs Wochen ohne Alkohol oder Spielen war. Natürlich ging es mir verdammt mies, schließlich hatte ich einiges verloren.

Ich meine nicht Geld. Ich hatte meine Freundin wirklich sehr lieb, es tat weh. Umso klarer ich im Kopf wurde, desto größer wurde der Schmerz. Aber ich weiß, ich hätte diese Frau zerstört, so wie ich damals war. Die Trennung von mir war ihre Rettung.

Dann kam der Tag, an dem es hieß, Abschied nehmen. Abschied von meiner Therapeutin, von meiner Heimatstadt, von meiner Schwester und trotz vieler Rückschläge die noch kamen, Abschied vom Spielen und vom Alkohol. Obwohl mein Abschied vom Alkohol und vom Spielen noch einige Zeit dauern sollte, die Saat der Liebe, des Verstehens, des Begreifens war gesät. Es sollte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Blume anfängt zu blühen.

Ein Freund brachte mich dann mit dem Auto nach Bad Essen. Dort sollte ich die Langzeittherapie machen. Auf dem Weg gingen mir tausend Sachen durch den Kopf.

Aber ein Gefühl war übermächtig. Angst. Was erwartet mich? Ich hatte einfach nur Angst. Nachdem wir angekommen waren, begleitete mein Freund mich dann noch durch die Aufnahme, halt Papiere abgeben und so weiter, und dann kam der schwerste Abschied meines Lebens.

Ich nahm ihn in den Arm und drückte ihn ganz fest an mich. So fest, ich glaube der Arme bekam keine Luft mehr. Ich wollte ihn nicht mehr loslassen. Ich hatte doch solch eine Angst.

Zum Ersten mal in meinem Leben fühlte ich mich allein. Bitte bitte , lass mich nicht allein. Ich wollte schreien, ich wollte weinen, aber es ging nicht. Er drückte mich dann sanft von sich und ging. Es tat ihm auch weh.

Da stand ich, die Reisetasche zu meinen Füßen, auf einem sehr großen Flur. Sehr allein. Mir kam alles sehr groß, regelrecht riesig vor. Vielleicht lag es daran, das ich mich so klein fühlte. Ein kleiner Junge stand auf einem riesigen Flur und wusste nicht wie es weitergeht.

Wie sollte ich jemals wieder glücklich sein können. Wie sollte ich jemals wieder von Herzen lachen können. Wie sollte ich jemals wieder fröhlich sein können. Ich hatte doch soviel kaputtgemacht, so vielen Menschen wehgetan.

Ich lebte mich relativ schnell ein. Ein Tag bestand aus mehreren Einheiten. Gruppenstunden, Arbeitstherapie und so weiter. Alles war geregelt, wie ein richtiger Arbeitstag. Für jemanden wie mich, der vorher ein echtes Lotterleben geführt hatte, war es sehr gut sich wieder an einen geregelten Tagesablauf zu gewöhnen Und alle Patienten wurden in verschiedene Gruppen aufgeteilt. Ich kam in die Gruppe der Igel.


In die Igelgruppe kamen Patienten, die schwerere Probleme hatten. Zusätzlich zu ihrer Krankheit. Menschen die kein Zuhause hatten oder die Arbeitslos waren. Um uns kümmerte man sich besonderst. Wir verwalteten uns auch selbst. Das heißt, wir hatten ein bestimmtes Budget und dafür kauften wir alles was wir für einen Woche zum Leben brauchten selber ein. Und natürlich kochten wir auch selber. Die anderen Patienten aßen im Speisesaal.

Wir Igel waren etwas besonderes. Wir Igel waren Zehn oder Elf, genau weiß ich es nicht mehr. Und wir hatten alle auch Igelstachel. Aber ich glaube, diese Stachel waren nur Selbstschutz. Jeder weiß doch, dass Igel ganz liebe und sanfte Wesen sind. Man muss sie nur richtig anfassen.

Ganz langsam fingen meine Gespenster an zu verschwinden. Meine Komplexe, meine Schuldgefühle, mein schlechtes Gewissen und – meine Angst. Ich fing an mich zu erholen. Mehr und mehr veränderte ich mich. Meine neue Umgebung, viele sehr liebe Menschen, die ich kennen lernen durfte, es zeigte Wirkung. Meine Totenstarre wurde von der Lebendigkeit dieses Ortes in Leben verwandelt. Ich wurde aufgeschlossen.

Der Zauber des Lebens. Kein Alkohol, keine Spielautomaten. Keine Gespenster. Ich bekam immer mehr Kontakt zu Mitpatienten. Dann kam mein Geburtstag. Ich werde diesen Tag in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Wir hatten in dieser Woche Küchendienst und aßen deswegen auch mit allen anderen im großen Speisesaal. Jemand aus meiner Gruppe hatte mir abends vorher gesagt, da ich Geburtstag habe, könne ich am nächsten Tag ausschlafen. Ich solle erst direkt zum Frühstück unten sein. Prima, dachte ich, länger schlafen.

So kam ich nun an meinem Geburtstagsmorgen recht gut gelaunt in den Speisesaal und suchte unseren Tisch auf. Was war das denn? Der Tisch war geschmückt. Da standen Blumen. Kleine Geschenke waren auf dem Tisch verteilt und meine Gruppe stand auf um mich zu begrüßen. Ich weiß nicht wie ich all die Gefühle, all das was mich in diesem wunderbaren Augenblick bewegte hat, beschreiben soll.

Da war ich, der Versager, die Vollniete, jemand der so viel Mist gemacht hat in seinem Leben. Der doch glaubte, nie wieder glücklich sein zu dürfen. Ein kleiner Junge voller Angst.

Dieser verängstigte kleine Junge wurde in diesem Moment überschwemmt von Liebe, von Zuneigung und von Freundschaft. Einer der Patienten war Musiker. Er wusste, das ich ein großer Beatles Fan bin. Otto bat einen Moment um Ruhe, setzte sich ans Klavier und spielte „Imagine“. Dieses wunderschöne Lied von John Lennon.

Er spielte es nur für mich. In diesem Augenblick konnte ich nicht weinen. Ich hatte Angst, dass meine Tränen dann nicht mehr aufhören würden. Jetzt, wo ich diese Zeilen zu Papier bringe, jetzt kann ich es. Ich lasse meinen Tränen freien Lauf. Es war einer der schönsten Momente meines Lebens.

Ich hatte viele meiner Geburtstage in einer Spielhalle oder vor der Flasche verbracht. Aber in der Spielhalle waren keine Freunde um mich herum. Keiner spielte „Imagine“.

Als ich Abends In meinem Bett lag, schloss ich meine Augen und sah diesen wunderbaren Tag noch einmal vor mir. Ich sah Freunde, ich sah mich. Ich sah einen sehr glücklichen kleinen Jungen, der anfing zu träumen. In meinem Kopf sang John Lennon noch einmal „Imagine“, nur für mich. Ich träumte, und ich stellte mir vor...

Kurze Zeit später lernte ich in meiner Gruppe eine Frau kennen. Die Frau, die mich auf meinem weiteren Weg begleiten sollte. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, und wir verliebten uns ineinander.

Aber was auf dieser Welt geht schon ohne Probleme. Nach den Regeln des Hauses musste einer von Beiden die Therapie beenden und abreisen. Ich fühlte mich stark genug und beendete meine Therapie in nach zwei Monaten. Ich versprach, mich in Hannover um eine Wohnung zu kümmern. Sie sollte nach dem Beenden ihrer Therapie nachkommen. Es war klar, das wir es gemeinsam versuchen wollten.

Ich konnte wieder zu meiner Schwester, sie war immer für mich da, und ich kümmerte mich um eine Wohnung. Einige Monate später kam meine Frau nach. Sie kam in eine winzige Wohnung, ich glaube wenn ich die Arme ausstreckte, stieß ich im Wohnzimmer an zwei Wände. Aber das machte nichts, wir waren zusammen. Wir waren glücklich.

Aber ich fing an mich wieder zu verändern. Der Zauber wich der Realität. Vielleicht war es die alte Umgebung, vielleicht der Berg Schulden der ja immer noch da war. Vielleicht war es aber auch Angst. Angst erwachsen zu werden.

Meine Sucht holte mich ein. Ich fing wieder an zu trinken und zu spielen. Da waren sie wieder, die Gespenster meiner Vergangenheit. Sie ließen mich nicht los. Ich wollte nicht Trinken und ich wollte auch nicht Spielen. Ich fing an mich dafür zu hassen.

Nur, etwas hatte sich verändert. Wo früher Verzweifelung war, war nun ein Funken Hoffnung. Angst wurde von einem Hauch Zuversicht verdrängt. Da war neues in meinem Kopf, in meinem Fühlen. Wie war das damals in der Klinik mit Tut-Ench-Amun? Wie waren die Gespräche mit meinem Arzt? Wie waren die Stunden mit meiner Therapeutin? Wie war mein Geburtstag? War ich vielleicht gar kein Versager, keine Vollniete die sowieso nur alles zerstört was sie anpackt. War ich vielleicht einfach nur Suchtkrank?

Diesem Sog, welcher mich mit aller Gewalt nach unten ziehen wollte, war nun etwas gegenübergestellt. Diese unvorstellbare Macht der Sucht. Es gab da etwas was ich tun konnte. Ich wusste wo ich Hilfe finden konnte. Wenn ich früher vom Zocken nach Hause kam und mich besoff war ich einfach nur Grenzenlos einsam.

Am nächsten Tag wurde ich dann von tiefster Resignation gepackt. Ich konnte dann immer nur eines denken, es hat doch sowieso alles keinen Sinn mehr. Du schaffst das nie. Versager bleibt Versager.

Und, da war meine Frau. Sie machte mir immer wieder Mut. Sie kämpfte wie eine Löwin um meine Seele. Sie wollte mich nicht an den Alkohol oder das Spielen verlieren.

Meine Stachel. Alkohol und Spielen. Mein Stachelkleid, welches mich ja mein ganzes Leben vor Gefühlen geschützt hatte. Vor positiven Gefühlen geschützt hatte. Vor dem Gefühl etwas Wert zu sein. Vor dem Gefühl geliebt zu werden. Negative Gefühle waren okay für mich, damit konnte ich umgehen. Die hatte ich ja immer.

Aber, hatte ich nicht etwas neues erfahren? Hatte ich nicht dieses unbeschreiblich schöne Gefühl der Freundschaft, der Zuneigung erlebt. Diese unglaubliche Wärme, die sich in meinem ganzen Körper verbreitet hatte, in Momenten wie an meinem Geburtstag. Und diese grenzenlose Liebe, die mein Herz erfüllte.

Für die Menschen, die mir solche Augenblicke schenkten. Doch, es gab mehr in meinem Leben, als der Versager zu sein, für den ich mich hielt.

Ich wusste, wo ich Hilfe bekommen konnte. Da war mein Arzt und da war meine Therapeutin. Und da waren die Menschen eines Vereins, die ich damals kennen gelernt hatte. Ich fühlte, die lassen mich nicht allein. Für die bin ich kein Versager.

Mein Weg der Besserung, der Linderung meiner seelischen Schmerzen konnte beginnen.
Die Saat der Liebe, der Zuneigung und der Hoffnung, konnte anfangen auf meiner Seele zu erblühen. Es sollte noch vier Jahre dauern. Vier Jahre, in denen ich noch sehr viel Geld verspielte . In denen ich noch mit aller Macht zu spüren bekam, was es heißt, Alkoholiker zu sein. Vier Jahre, in denen meine Frau über die Grenzen ihrer Kraft hinaus ging. Aber auch vier Jahre, in denen ich nicht mehr wie früher, einen Schritt vorwärts und drei zurück machte. Ich fing an zu kämpfen. Ich fing an um meine Seele zu kämpfen.

Und eines weiß ich ganz genau. Es gibt auf dieser schönen Welt noch sehr, sehr viele Suchtkranke. Und alle haben sie ein ganz dickes Stachelkleid. Sie zeigen der Welt ihre spitzen Stacheln und sie lassen niemanden an sich heran. Diese Menschen sind es gewohnt, das es ihnen schlecht geht, das sie Schuldgefühle haben und ein schlechtes Gewissen.

Aber wer weiß, wenn wir ihr Herz berühren, wenn wir die Saat der Liebe, der Zuversicht und der Hoffnung auf ihrer Seele pflanzen können. Vielleicht fangen diese unschuldigen Menschen dann auch an zu blühen.

Schließlich wissen wir doch, Igel sind ganz, ganz liebe und sanfte Tierchen. Man muss sie nur richtig anfassen.











Manchmal sehen wir etwas hundertmal, tausendmal,
bevor wir es das Erstemal richtig sehen.
Christian Morgenstern












Nachwort:

Ich bin jetzt Einundvierzig Jahre alt. Mein letzter Rückfall war vor einem Jahr und sieben Monaten. Ich bin damals in der Stadt zusammengebrochen. Meinem Körper fehlte der Alkohol. Ich hatte zuvor eine schlimme Trinkphase durchgemacht und Abrupt aufgehört. In diesem Augenblick meines Lebens hatte ich echte Todesangst. Ich wurde dann in ein Krankenhaus gebracht und machte noch einmal eine Entgiftung. Seitdem bin ich trocken Ich spiele auch nicht mehr. Ich fühle mich wohl und glücklich bin ich sowieso. Ich wünsche mir, das ich auch in Zukunft trocken bleibe und frei vom Glücksspiel leben kann.

Uns geht es gut. Wir haben eine schöne, große Wohnung und streiten von Zeit zu Zeit. Ganz wie es sich für zwei Liebende gehört.

Ich weiß aber auch, dass ich einigen Menschen in meinem Leben sehr weh getan habe. Ich kann das was passiert ist, nicht mehr rückgängig machen, manchmal wünschte ich es ginge, aber es geht nicht. Vielleicht können mir diese Menschen irgendwann verzeihen. Ich werde versuchen mir selbst auch zu verzeihen, denn ich weiß, was ich getan habe. Und es tut weh.

Ich tat es nicht mit böser Absicht und es ist nicht meine Schuld,

Ich bin Suchtkrank. Ich werde immer Suchtkrank sein. Aber, meine Krankheit wird mich nicht besiegen.



DANKE



Rolf Ludwig
www.spielsuchtgruppe.de

Marcus (Fachstellenteam)
18.07.2003, 16:01
Hallo Rolf,

Im Zuge der Umstellung unserer Seite war es uns in den letzten Tagen nicht möglich eMails zu beantworten.

Du fragtest nach einem Link, wenn ich mich recht erinnere.
Wir werden diesen Link natürlich setzen. Es wird allerdings noch ca. 3 Wochen dauern, denn dann hat unsere Seite ein ganz neues Gesicht (und bekommt neue Funktionen).

Also: noch ein wenig Geduld!
Grüsse aus Neuss und ein schönes Wochenende,
Marcus

Rolf
18.07.2003, 16:18
ich bin schon mächtig gespannt, wie das neue Forum aussieht. Prima, was ihr leistet.

Viele Grüße, Rolf

norbert
18.07.2003, 17:24
danke, es sollte nicht nur im forum veröffentlicht sein. woher kennt rolf aus hannover eigentlich willi schwabes rumpelkammer ? gruss norbert.

Rolf
18.07.2003, 18:03
:)))pssssst, wir haben als ich klein war immer heimlich den Ostsender gesehen. Die hatten ja auch das wesentlich bessere Sandmännchen.

spy
19.07.2003, 22:15
es ist unglaublich in wie vielen pasagen deines textes ich mich wiedergefunden habe . ich habe in letzter zeit hier wenig geschrieben aber war jeden tag auf der seite und habe mitbekommen wie viel energie du in dieses forum investierst .ich kenne keinen menschen der den mut hat sein leben so zu offenbaren .ich hoffe wir treffen uns am dienstag beim chat gruß spy PS:danke für den beitrag

Marija
20.07.2003, 00:04
Lieber Rolf,

es tat verdammt weh zu lesen, ich hoffe, und bete du tust es nie, nie wieder.

lieben gruß marija

Stefan
20.07.2003, 11:40
Danke Rolf!!!!

Andrea
21.07.2003, 16:39
..ich sitze hier und bin ganz still. Nicht erschüttert, einfach still. Und frage mich, was alles kann ein Mensch aushalten und wie schwer muß es sein, sich von so weit unten wieder hochzurappeln?
Danke, das du das mit uns teilst. Bei der Stelle mit "Imagine" mußte ich richtig schlucken und hatte Tränen in den Augen (sorry, bin halt ne alte Heulsuse) und der Vergleich mit dem Igel ist sowas von schön!!!
Bitte mal unbekannterweise einen Gruß an deine Frau, du kannst wirklich froh sein, einen solchen Menschen an deiner Seite zu haben!

Danke, danke, vielen Dank und ein gaaaanz dickes *daumendrück*, das das im letzten Jahr dein letzer Rückfall gewesen ist!
Andrea