Dabei hatte ich ihm von den Freigewordenen erzählt. Er hatte nichts verstanden, hatte nichts gespürt von der Macht Gottes und wie sie Menschen verändern kann. Vielleicht hätten wir ihn einladen sollen in die Gruppen der Selbsthilfe, in die Kliniken, in die Wohngemeinschaften, wo man sie sehen kann, die, die ihr Leben von Grund auf geändert haben und dadurch zum Leben gekommen sind. Wer sich dort umhört, wer aufmerksam schauen kann, der sieht Menschen an denen „Wunder" geschehen sind, Menschen die durch diese Krankheit befähigt wurden, ihr altes krankmachendes Leben loszulassen.
Nun geschieht dies nicht einfach so: Gott gibt Kraft und Mut, aber ich muss es tun. Ich muss mich dieser Lebenskrise stellen, muss mich am Ausweichen hindern - und hier zeigt sich das „Begnadetsein" des Süchtigen. Er kommt durch seine Krankheit immer wieder an einen Punkt, wo er nicht mehr weiter kann, wo er an der Grenze zwischen Leben und Sterben steht. Darum Ist Krisenzeit eine Gnadenzeit, ist Lebenskrise eine Lebenschance.
Leider sind die Süchtigen umgeben von einer Fülle von „Helfern", die es gut meinen, die mitleiden, die durch den Süchtigen und seine Krankheit fast zugrunde gehen, die fest mit ihm verwoben sind, die ihn schützen wollen, die das Schlimmste zu verhindern suchen, die Angst vor dieser Lebenskrise haben und so dem Süchtigen und sich selbst immer wieder diese vielleicht Heilmachende Krise „stehlen". „Immer kam einer und stahl mir meine Krise1'—so sagte mir im nachhinein ein Süchtiger. „Immer haben sie mir geholfen, haben mir Geld geliehen, haben für mich gelogen, haben meine Lügen gerne geglaubt."

„Ärzte haben mich mit blinden Augen krankgeschrieben und mich so von der Verantwortung für meine Arbeit entbunden, gaben mir Medikamente, die mich weiter krank sein ließen. Andere Helfer gaben mir hohle Ratschläge. Aber es gab auch in unserem Leben die, die den Mut hatten, uns unsere Krise zu lassen, die die Kraft hatten, uns in die Krise zu begleiten und uns nicht allein gelassen haben, die mit uns ihre Krise erlebt haben." So können alle von den Lebenskrisen profitieren — die Süchtigen, die Angehörigen, die Freunde und die Helfer — alle haben ihre Lebenschance, wenn sie sich nicht ihren Krisen verschließen, wenn sie es zulassen können, dass das Alte, das, was uns am Leben hindert, stirbt. Damit das Alte vergehen kann, ist immer wieder Überprüfung nötig. Wir sollten uns Fragen stellen und keine Angst haben, sie zu beantworten:

Was fehlt mir?
Was brauche ich?
Was tut mir gut?
Was macht mich krank?
Was bringt mich um?
Was kann ich ändern?
Was muss ich ändern?

Oft reden wir von ansteckenden Krankheiten. Vielleicht sollten wir über ansteckende Gesundheit reden, uns gegenseitig zeigen, wie man besser leben kann, uns gegenseitig lehren, wie man weniger leidet, wie man für seine Seele sorgt, wie man den Geist stärkt, wie man sinnvolles Leben findet und genießt.
Was antworten wir auf die Frage: Willst Du gesund werden? — Reden wir auch wie der Kranke, der Gründe anführt, warum er nicht in das „Heilende Wasser" kommen kann? Was machen wir, wenn wir gesagt bekommen: „Steh' auf und geh'!" — Bleiben wir in unserem Kranksein, weil uns Zweifel, Ängste und Dummheit gefangen halten oder vertrauen wir der Aufforderung des Meisters und stehen endlich auf, um zu gehen? Mit Gottes Hilfe sind wir gehfähig! In der Suchtkrankengemeinschaft gibt es Menschen, die zeigen, dass Veränderungen möglich sind — nicht nur als Idee oder frommer Wunsch, sondern sichtbar an Menschen, die Hilfe gegeben, Hilfe bekommen, genommen und genutzt haben — Menschen, die ihre Krise genutzt haben, die die Fragen des Meisters gehört und verstanden haben. Ich wünsche uns jede Menge Heilmachende Krisen. Wenn aber unsere
Ängste uns an Veränderungen hindern wollen, dann können wir mit den Worten Dietrich Bonhoeffers beten und erfahren, dass uns eigentlich nichts passieren kann.

Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost,
was kommen mag' Gott ist mit uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag!"

Berthold Kilian