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Thema: Aus gegebenem Anlaß:

  1. #1
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    Standard Aus gegebenem Anlaß:

    Hallo,

    in Anbetracht der Tatsache, dass hier immer wieder gefordert wird, von sich zu erzählen, aber auch, weil ich in diesem Monat 2 Jahre spielfrei bin - sozusagen als Jubiläum - habe ich mich entschlossen, meine Spielerkarriere, die ich vor knapp 1,5 Jahren hier aufzeichnete noch einmal hervorzuholen:

    vom 13.03.07
    "An Alle!
    Zunächst ist es mir ein besonderes Bedürfnis, mich einmal für meinen ersten Beitrag zu entschuldigen.
    Es ist jetzt eine Woche her, seitdem ich dieses Forum gefunden habe. Es ist mein erstes Forum und ich war ziemlich begeistert, hier meine Erfahrungen weiterzugeben wie einfach es für mich war und ist, nie wieder spielen zu müssen. Wer diesen Beitrag gelesen hat, muss zumindest die Überschrift ziemlich naiv, hochtrabend, besserwisserisch oder auch blauäugig gefunden haben. So auf jeden Fall geht es mir, nachdem ich mich jetzt einige Tage immer mal wieder durch die bisherigen Beiträge gelesen habe.
    Zu meiner Entschuldigung sei gesagt: ich hatte schon immer ein "Helfersyndrom". Im zarten Alter von 12 Jahren habe ich aktiv mit einer kirchlichen Jugendgruppe Drogentherapiezentren usw. besucht. Mein sehnliches Wunsch war es immer Sozialtherapeutin zu werden. Hat zwar nicht geklappt, aber auch in meinem jetzigen Beruf spiele ich die Feuerwehr, über Schadensbegrenzung aus, tröste, verteidige und und und... auch wenn es kein sozialer Beruf ist.
    Nun aber zu meiner Spielsucht:
    Aktiv ans Spielen gekommen bin ich mit ca. 19 Jahren. Mein damaliger Freund steckte 1 DM in einen Automaten und bekam über 100 DM wieder heraus. Das kann ich auch, sagte ich mir und damit begann der klassische Einstieg. Wir gingen in die Spielhalle, meist jeder für sich und jeder heimlich.
    An den Lügen, aber auch aus Mangel an Liebe und an Geld ging diese Beziehung nach 5 Jahren in die Brüche. Viele Probleme, hauptsächlich auch finanzieller Art begleiteten mich, und nichts war einfacher als alles zu vergessen, indem ich spielen ging. Auf die Idee, dass ich damals schon süchtig war, bin ich echt nicht gekommen. Finanziert habe ich mich außer mit meinem Verdienst mit Krediten. Auch kriminelle Aktionen habe ich mir damals überlegt, aber ich war zu feige.
    Meinen Mann sah ich das erste Mal in einer Spielhalle. Viele Jahre (auch nach der Geburt unserer Tochter) haben wir gemeinsam gespielt, viele Jahre beide nicht. Als unsere Tochter geboren war, spielten wir gar nicht mehr, es ging uns gut, viel hatten wir nie, aber wir konnten leben, nur leisten konnten wir uns nichts. Mein Mann spielte irgendwann wieder und ich war sauer - nicht das er das wenige, was wir besaßen verspielte, sondern dass er "unserem" Vergnügen allein nachging.
    Natürlich habe ich das nicht gesagt, wir haben geredet und ich habe an seine Verantwortung unserem Kind und mir gegenüber appeliert. Ihr glaubt es nicht: ich hatte Erfolg! Statt sein Geld in die Automaten zu stecken, fing er an zu sparen, er wurde regelrecht geizig, aber nicht seiner kleinen Familie gegenüber sondern nur sich selbst. Das hat uns in späterer Zeit oft geholfen, aber ich habe es auch ausgenutzt, konnte ich doch die Konten leerspielen und es war immer ein Notgroschen vorhanden. Da er Fernfahrer ist, war er sehr selten zu Hause. Irgendwann kam ich auf den Trichter, mal so ab und zu spielen kann ja nicht schaden. So schlidderte ich wieder in die Abhängigkeit, allerdings viele Jahre so, dass er es nicht bemerkte oder ich mich mit Notlügen über Wasser halten konnte. Ich spielte sozusagen am Limit der untersten Grenze unseres Kontos und außerdem nur, wenn ich mein Kind unter Aufsicht wußte und Geld da war. Natürlich war ich der Meinung, ich hätte alles voll unter Kontrolle. Und unter Kontrolle hatte ich leider auch unsere Konten. Ca. 3 oder 4 mal in den letzten 15 Jahren hat mein Mann mich "erwischt". Verziehen hat er mir immer wieder, versprochen, nicht mehr zu spielen habe ich unzählige Male. Zum Zeichen seines Vertrauens, dass mich bestärken sollte, behielt ich die Aufsicht über alle Konten. Selbstverständlich habe ich ausgiebig davon Gebrauch gemacht, dass immer mühsam in der spielfreien Zeit angesparte Geld so schnell wie möglich in der Spielhalle auszugeben.
    Vor ca. 5 Jahren wurde der Spieltrieb extremer. Ich war ziemlich erfolgreich in meinem Beruf und (wir wohnen in einem relativ kleinen Ort in Nds.) fuhr damit ich unerkannt blieb, regelmäßig in die umliegenden Kleinstädte zum Spielen...

  2. #2
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    344

    Standard AW: Aus gegebenem Anlaß:

    ...Vor knapp 3 Jahren war mein Mann längere Zeit zu Hause und konnte die nachlässig versteckten Kontoauszüge, Mahnschreiben ect. nicht mehr übersehen. Er weihte unsere mittlerweile 17jährige Tochter ein, ich schämte mich ungeheuerlich und faßte wieder einmal gute Vorsätze. Die hielten noch nicht mal mehr eine Woche. Ich grämte mich, ich konnte keinem mehr in die Augen sehen, ich hatte Herzklabastern, ich schwitzte, ich fror, es ging mir schlecht - spielen ging ich trotzdem. Nun in die Spielotheken in unserem Ort, es war mir alles egal. Fast jede Nacht, solange ich Geld hatte. Es merkte keiner. (Später sagte mein Mann, er hatte Angst davor es zu merken). Ich hatte unendlich Angst vor dem "Erwischtwerden", tat aber gleichzeitig auch alles, damit es endlich jemand merkte. Mittlerweile suchte ich wirklich Hilfe - aber ich konnte nicht sprechen - ich konnte nichts, was mit der Sucht zu tun hatte artikulieren - ich war gefesselt, also ging ich spielen. Viele Male saß ich im Auto vor unserer Suchtberatungsstelle - ich konnte nicht hineingehen, sondern ging spielen. Viele Male stand ich bei einem Freund und Nachbarn vor der Tür (ist Psychologe und bildet Suchtkrankenhelfer aus) -ich konnte nicht klingeln, also ich ging spielen. Ich glaube, diese Dramaturgie kennt jeder hier und ich brauche nicht noch ausführlicher zu werden. Dann fasste ich den glorreichen Entschluss alles zu verspielen, was noch irgendwie da war und dann zu entscheiden: Zu Reden und in Therapie zu gehen oder wirklich kriminell werden (ich verwalte seit 4 Jahren beruflich ein Konto mit einem Volumen von einhundermillionen €) Die Gefahr etwas zu Verlieren war in beiden Fällen da: im ersten meine Familie, im zweiten meinen Beruf und meine Familie.
    Heute weis ich, dass auch diese Überlegung in erster Linie eine Ausrede war um weiterzuspielen. Im August letzten Jahres war es dann soweit, ich hatte nichts mehr, nicht einen Cent.
    2 Tage später hatte ich mich zu einem Entschluß durchgerungen. Ich ging zu meinem Freund und Nachbarn W. und fragte ihn, ob er jemanden wüßte, der mir helfen könne. Er bot sich selbst an.
    Als erstes erstellte er mit mir ein Notfallprogramm, dass u. a. auch enthielt, egal wie weit der Umweg ist, auf jeden Fall jede Spielothek zu meiden, sofort meine Familie zu informieren, alle Kontokarten abzugeben und mit der Bank einen Termin zu vereinbaren. Mit meiner Tochter sprach ich noch am gleichen Tag, meinen Mann informierte ich am Wochenende. Beiden waren unendlich hilflos, verletzt, empört, sauer, traurig, entsetzt und und und... Ich aber war erleichtert, ja regelrecht euphorisch: ich hatte es geschafft zu Reden! Diese Euphorie, obwohl ich mir alle Mühe gab, sie zu unterdrücken, machte es meiner Familie noch schwerer. Doch durch Gespräche mit W., die er mit beiden führte, konnten sie es nach und nach tolerieren und dann auch verstehen. Und dann passierte folgendes: wir hatten 3 Wochen Urlaub. In diesen 3 Wochen haben wir unser gesamtes Leben verändert. Wir haben ausgemistet, angefangen haben wir mit unserem Haus, wir finanzierten um, alle Verträge haben wir geprüft, ob nun Kreditvertrag, Versicherung, Telefon oder... Wir haben geredet und geredet. Wir arbeiteten unsere Vergangenheit auf. Wir erstellten ein Haushaltsbuch, wir erstellten einen Wochenplan, Einkaufslisten dazu und eine Wünscheliste. Sogar ein altes Portemonie aus einer spielfreien Zeit suchte ich mir - wir fingen neu an. Ich ging in dieser Zeit fast jeden Tag zu W., jedes Gespräch gingen wir zu Hause noch einmal durch. Mein Mann wollte, dass ich mich allen Verwandten, Freunden und Bekannten oute. W. war dagegen. Wir haben gemeinsam eine Auswahl getroffen. Ich wurde krank: Stirnhöhlenvereiterung. Ich hatte das Gefühl, der gesamte Schmutz der Sucht kommt durch die Nase aus mir heraus. Danach bekam ich mit den Bandscheiben Probleme. Ständig tat mir plötzlich etwas weh - trotzdem ging es mir gut - ich lernte wieder zu leben.
    Mit W. habe ich Ursachenforschung betrieben. Wir wurden schnell fündig. Das heißt W. wurde fündig, ich habe es zunächst nicht geglaubt, dass etwas so einfaches der Grund oder die Ursache für meine Sucht sei. Mittlerweile bin ich eines besseren belehrt. Es hat mit meiner Kind- und Jugendzeit und mit meinen Eltern zu tun (das hört sich jetzt so geheimnisvoll an, aber wenn ich damit auch noch ausführlich werde, dann müsst Ihr ein Buch lesen)
    Ich habe mich damit auseinandergesetzt und tue es immer noch. Es ist manchmal sehr schmerzvoll, aber ich habe gelernt, meine Gefühle nicht mehr an den Spielautomaten abzugeben, sondern mich damit zu beschäftigen.
    Und- bislang hatte ich nicht einmal mehr das Bedürfnis in die Spielhalle zu gehen - Im Gegenteil:
    meine Euphorie ist nicht verlorengegangen und ich genieße jeden Tag. Mir vorzustellen, mich all diesem Frust, Ekel vor mir selbst, diesem Zwang, der Illiusion auszusetzen versetzt mich noch mehr in Angst und Schrecken, als vorher der Gedanke über die Sucht - meine Sucht - reden und Konsequenzen ertragen zu müssen. Eines aber weiß ich ganz gewiss auch, nie wieder werde ich mich in eine Spielothek begeben, noch nicht einmal um die Toilette zu nutzen, denn ob ich mich der Fazination der Automaten gänzlich entziehen kann, wenn sie direkt vor mir sind, möchte und werde ich nicht ausprobieren."

    Beim Lesen dieses Berichtes habe ich lange darüber nachgedacht, ob und/oder was sich seither weiter geändert hat....

  3. #3
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    Standard AW: Aus gegebenem Anlaß:

    ...Nun vom Prinzip her wenig, weil ich finde, dass ich für mich wirklich alles richtig gemacht habe. Ich genieße immer noch die Tage der Spielfreiheit, selbst die Euphorie ist immer noch da. Ich bin gefestigter, bleibe aber wachsam. Kiki's Metapher mit dem Vulkan trifft es ziemlich genau auf den Punkt.
    Mein Mann und meine Tochter haben Ihr Vertrauen in mich wiedergefunden. Mein Mann hat mir vor kurzem Vollmacht auf seinem Geschäftskonto eingerichtet und freie Verfügungsgewalt über sein und auch mein Konto habe ich bereits seit Anfang 2007.
    Unser Leben hat sich dahingehend geändert, das wir viel mehr miteinander reden und viele Dinge gemeinsam erledigen. Es gibt völlig neue "Unternehmungen", gemeinsame aber auch für jeden von uns allein. Ich habe einige neue Freunde gefunden und viele neue Menschen kennengelernt, von denen mir einige besonders ans Herz gewachsen sind- auch hier im Forum; und zwei ganz besondere Freundinnen die ich gern namentlich erwähnen möchte: meine Schwester Christiane, die 2 Jahre älter ist als ich und die ich im September 2006 kennenlernen durfte und Sternchen, bei der ich oft das Gefühl habe, eine weitere Schwester bekommen zu haben. Ich konnte loslassen, was mir nicht gut getan hat früher (auch wenn es manchmal sehr wehgetan hat und noch tut). Ich stehe zu mir. Ich verstecke mich nicht mehr. Ich weiß, dass ich nicht ohne Fehler bin, aber ich arbeite daran und kann auch mal "fünfe gerade sein lassen". Ich habe meinen "Traum" wahrgemacht und besuche einen Suchtkrankenhelferkurs, der im September abgeschlossen sein wird. Wahrscheinlich werde ich, wenn es meine Zeit erlaubt, einen weiteren Kurs zum Suchtberater dranhängen. Ich liebe mein Leben und das schönste Geschenk was es mir bisher geboten hat ist nicht mehr spielen gehen zu müssen.

    ES GEHT MIR RICHTIG GUT!!!!!!!!!

    und ich werde immer noch nicht - noch nicht einmal zum Pinkeln - eine Daddelhalle betreten.

    Marlies

  4. #4
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    Standard AW: Aus gegebenem Anlaß:

    Liebe Marlis,

    Herzlichen Glückwunsch zum zweijährigen.

    Ich wünsche Dir alles erdenklich Gute und das nichts , aber auch gar nichts von Deinem Weg abbringen mag.

    Liebe Grüsse Kiki

  5. #5
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    Standard AW: Aus gegebenem Anlaß:

    Ganz lieben Dank Kiki für Deine herzlichen Worte.

    Wenn ich eines weiß, dann dieses: ich werde alles dafür tun, das ich nicht wieder in diesem Sumpf gerate!

    Gute Nacht

    Marlies

  6. #6
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    Standard AW: Aus gegebenem Anlaß:

    eine schreckliche geschichte...ein prima bericht...
    alles gute zum jubiläum,die besten wünsche für die zukunft!
    mich gruselts immer wenn ich solche berichte lese.
    wenn spieler erzählen wie das leben so war als sich alles um diese verdammten automaten gedreht hat.

    sheepyi

  7. #7
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    Standard AW: Aus gegebenem Anlaß:

    Auch von mir die besten Glückwünsche zum 2 jährigen. Ich denke mal, man muss sich nicht ändern, wenn man sich wohlfühlt.

    Ich messe Menschen nur an ihrer Zufriedenheit, für mich zählt ein zufriedener Bettler viel mehr als ein unzufriedener Millionär.

    Zwischendrin hatte ich die Zufriedenheit auch, wer weiss wer sie jetzt hat. Ich hoffe mal du, und ich hoffe du behälst sie dann auch, und gehst nicht so leichtfertig mit um wie ich.

    Lieben Gruß
    Harry

  8. #8
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    Standard AW: Aus gegebenem Anlaß:

    Auch von mir alles gute!!
    Und auch danke für Deine guten Beiträge hier!

    Dicken Gruß! :-)

    Moon

  9. #9
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    Standard AW: Aus gegebenem Anlaß:

    Hallo Marlies,

    Ich gratuliere dir auch ganz herzlich zu 2 Jahren Spielfreiheit.

    Ich weiß selbst genau was es bedeutet, wie schwer dein Kampf bis hier her war. Beim Lesen deiner Zeilen kamen mir die Tränen , es kam mir alles so bekannt vor. In meinen Gedanken liefen meine 5 Jahre Spielsucht ab und mein Leben was ich mir dadurch so versaut habe.

    Aber auch ich möchte aus diesen Teufelskreis heraus und mein Leben wieder lebenswert machen. 4 Wochen sind geschafft und ich hoffe auch eines Tages meinen 2 jährigen spielfreien Geburtstag feiern zu können.

    Auch kannst du ganz stolz sein auf deine Familie, das sie so zu dir stehen und dich so unterstützen. Das ist sehr viel Wert, allein hättest du es nicht so weit geschafft.

    es grüßt dich lieb Christa

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